Predigt zum Nachlesen
Jesus Christus spricht: Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das Deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück.
Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch!
Und wenn ihr die liebt, die euch lieben, welchen Dank habt ihr davon? Denn auch die Sünder lieben ihre Freunde.
Und wenn ihr euren Wohltätern wohltut, welchen Dank habt ihr davon? Denn die Sünder tun dasselbe auch.
Und wenn ihr denen leiht, von denen ihr etwas zu bekommen hofft, welchen Dank habt ihr davon? Auch die Sünder leihen den Sündern, damit sie das Gleiche bekommen.
Vielmehr liebt eure Feinde; tut Gutes und leiht, wo ihr nichts dafür zu bekommen hofft. So wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Allerhöchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.
Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen. (Lukas 6,30-38)
Liebe Gemeinde, vom Neuen Jahr 2021 ist schon wieder ein Monat vorbei. Und so, wie wir früher mit dem Psalm sagten: „Aller Augen warten auf dich, und du gibst ihnen ihre Speise zur rechten Zeit.“ So sagen wir in diesen Zeiten (innerlich): „Aller Augen warten auf dich, dass die Zahlen der Infektionen weiter sinken und die der Impfstofflieferungen steigen, die Tage länger werden und der Frühling kommt, damit wir wieder normal leben können.“
Wer bei der Schriftlesung aufmerksam zugehört hat, wird es vielleicht gemerkt haben. Im Text war die Jahreslosung enthalten. Und es ist vielleicht gut, wenn wir uns die Jahreslosung auch während des Jahres immer wieder in Erinnerung rufen, wenn sie uns gewissermaßen durchs Jahr hindurch begleitet. Sie lautet bekanntlich: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Und im darauffolgenden Vers heißt es auch gleich: Vergebet, so wird euch vergeben. Vergebung hat ja auch mit Barmherzigkeit zu tun. Vergebung, statt Hass. Barmherzigkeit, statt Egoismus - das ist ein Wunder in unserer heutigen Zeit! Leider. Denn normal, also häufiger, ist das andere. Die Welt und unser Alltag sind voll von Unbarmherzigkeit, Unversöhnlichkeit und Hass. Und heutzutage, wo man im Netz alles anonym verbreiten kann, hat Hass in seinen brutalen und hässlichen Formulierungen Hochkonjunktur. Hässlich - da steckt das Wort Hass ja schon drin.
Wie können Hass und Unversöhnlichkeit durchbrochen werden?
Werfen wir einen Blick zurück in das Jahr 1947. Der verheerende Zweite Weltkrieg, der voll von Hass, Vernichtung und unvorstellbarer Grausamkeit war, in dem die Hölle auf Erden wütete, ist gerade mal zwei Jahre vorbei. In einer Kirche in München hält eine Frau einen Vortrag über „Vergebung“. Ihr Name ist Corrie ten Boom. Einige von euch haben den Namen vielleicht schon gehört. Sie kommt aus den Niederlanden. In der Nazi-Zeit war sie im Konzentrationslager Ravensbrück, weil sie das von den damaligen Machthabern verordnete Gesetz der Unbarmherzigkeit durchbrochen und Juden versteckt hatte. Ihre geliebte Schwester Betsie hat das KZ nicht überlebt. Nach dem Vortrag bahnt sich ein kahlköpfiger, dicker Mann seinen Weg zu ihr. Sie erkennt ihn sofort wieder. Er ist einer der grausamsten Wächter in Ravensbrück gewesen. Als er ihr seine Hand entgegenstreckt, sieht sie vor ihrem inneren Auge die Lederpeitsche in seiner Hand. „Sie erwähnten in Ihrem Vortrag Ravensbrück. Ich war dort Wächter. Aber das ist vorbei. Ich bin Christ geworden. Ich weiß, dass Gott mir vergeben hat. Aber ich frage Sie: Können Sie mir vergeben?“ Corrie ten Boom berichtete später wie folgt über diese lebensverändernde Begegnung: „In diesem Moment“, sagt sie, „sehe ich den Mantel, die schwarze Uniform und ein Barett mit Totenschädel und gekreuzten Knochen. Ich sehe den großen Raum, in dem wir uns nackt ausziehen mussten. Schuhe und Kleider am Boden. Wir mussten nackt an ihm vorbeigehen. Ich erinnere mich an die Scham, ich erinnere mich an meine ausgemergelte Schwester, deren Rippen deutlich unter der pergamentartigen Haut hervortraten. Wir waren ins KZ gekommen, weil wir Juden in unserem Haus versteckt hatten. Mein Blut schien zu gefrieren. Sekunden stand ich wie gelähmt vor diesem Mann, doch es kam mir vor als wären es Stunden. Ich kämpfte in meinem Inneren: Meine Schwester war schließlich im Konzentrationslager Ravensbrück elend und langsam gestorben. Doch dann erinnerte ich mich an eine Bibelstelle: «Wenn ihr den Menschen ihre Sünden nicht vergebt, dann wird der himmlische Vater im Himmel auch euch nicht vergeben» (Matthäus 6,15). Nach dem Krieg hatte ich ein Heim für Naziopfer eröffnet. Ich erlebte dort, dass die, die vergeben konnten, innerlich frei wurden, egal welche körperlichen Schäden sie hatten. Die, die an ihrer Bitterkeit festhielten, blieben jedoch Invaliden. Ich stand immer noch vor dem Mann. Kälte umklammerte mein Herz. Doch, das war für mich interessant, Vergebung ist kein Gefühl, sondern in erster Linie ein Akt des Willens. Ich betete und hob die Hand. Ich betete darum, dass Gott mir das Gefühl der Vergebung schenken möge. Mit einer mechanischen Bewegung legte ich meine Hand in die Hand, die sich mir entgegenstreckte. Dann geschah etwas Unglaubliches! Ein heißer Strom entsprang in meiner Schulter. Er lief meinen Arm entlang und sprang über in unsere beiden Hände. Mein ganzes Sein wurde von dieser heilenden Wärme durchflutet. Ich hatte plötzlich Tränen in den Augen und konnte sagen: «Ich vergebe dir! Ich vergebe dir von ganzem Herzen.»“
Ihr Lieben wie weit reicht Vergebung? Wie weit kann Vergebung reichen? Es ist schwer nachzuvollziehen. Ich weiß nicht, ob ich diese Kraft gehabt hätte. Aber dass Vergebung etwas Befreiendes ist, auch für den der vergibt, habe ich von Menschen, die diesen Schritt gewagt haben, immer wieder gehört und gelesen.
Wie kann Gottes große Barmherzigkeit und Vergebung in unser Leben kommen? Da ist zuerst einmal die vertikale, die senkrechte Ebene, von oben nach unten. Nämlich, dass Gott uns liebt und diese Liebe uns verändert. Ohne diese lebensverändernde Kraft wäre es für Corrie ten Boom unmöglich gewesen, barmherzig zu sein und die Hand zur Vergebung auszustrecken. Aber es war, so schreibt sie, zuerst einmal ein Akt des Willens. Noch nicht des Gefühls. Aber mit der ausgestreckten Hand kommt die horizontale, die waagrechte Ebene ins Spiel. Die Ebene von Mensch zu Mensch. Wir sollen - so die Jahreslosung - barmherzig sein, wie auch unser Vater im Himmel barmherzig ist. Jesus hat es uns vorgemacht, als er am Kreuz sagte: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Und er fordert uns im Gebet, das wir nachher beten werden, auf zu beten: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Vergebung ist ein Akt der Befreiung - eben nicht nur für den, dem vergeben wird. Sondern auf zwischenmenschlicher Ebene auch für den, der vergibt. Wer nicht vergeben kann, lebt unter dauerhaftem Stress - sagen selbst Mediziner. „Forgiveness“ heißt diese innere Bereitschaft zur Vergebung, zum Verzeihen in psychologischen Fachkreisen.
Ihr Lieben, wie wäre es, wenn 2021 bei uns ein Jahr der Barmherzigkeit und Vergebung werden könnte?
Immer wieder erlebe ich, dass es in unseren Beziehungen, in der Verwandtschaft, im Freundeskreis, im Bekanntenkreis Situationen gibt, in denen manchmal auch gläubige Menschen, Jahre oder gar Jahrzehnte in Unfrieden miteinander leben, nicht mehr miteinander reden. Das Tischtuch einer früher einmal ungetrübten Beziehung ist dauerhaft zerschnitten. Manchmal war es ein Satz, der den anderen tief verletzt hat, immer wieder sind es Erbstreitigkeiten, bei denen man im Unfrieden auseinander gegangen ist und es bleiben Verletzungen, die nicht heilen, unter einer dünnen Oberfläche weiter schwären und manchmal auch wieder, wenn das passende Stichwort fällt, erneut aufbrechen. Vielleicht können wir von Corrie ten Boom lernen, dass Vergebung zunächst einmal mit einem Akt des Willens, des Vergeben-Wollens beginnt. Und für den Vergebenden selbst ein Akt der Befreiung ist. Vielleicht kann das, was wir heute gehört haben, beim einen oder anderen zum Anstoß werden, darüber nachzudenken, wo es in unserem Umkreis solche Situationen gibt. Wo wir vielleicht zunächst in einem Akt des Willens jemandem vergeben. Oder jemandem davon sagen, dass ein Akt der Vergebung auch den Vergebenden selbst innerlich frei macht. Vielleicht kann der Stein, den ich versucht habe anzustoßen, irgendwo in Allmannsweier, in Hugsweier, in Langenwinkel oder sonst wo zu einem Segen, zum Beginn eines Heilungsprozesses werden, der ein zerschnittenes Tischtuch wieder zusammennäht. Dann hätte sich der heutige Blick auf die Jahreslosung gelohnt. Amen.
Werner Willunat