Predigt zum Nachlesen

Karfreitag 2021 – Jesu Kreuz als Lebensbaum –

Predigttext (Matthäus 27, 33-50)
33 Als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt: Schädelstätte, 34 gaben sie Jesus Wein zu trinken mit Galle vermischt; und als er's schmeckte, wollte er nicht trinken. 35 Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum. 36 Und sie saßen da und bewachten ihn. 37 Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König. 38 Und da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken. 39 Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe 40 und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz! 41 Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: 42 Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Ist er der König 2 von Israel, so steige er nun vom Kreuz herab. Dann wollen wir an ihn glauben. 43 Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn. 44 Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren. 45 Und von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. 46 Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? 47 Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia. 48 Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken. 49 Die andern aber sprachen: Halt, lass sehen, ob Elia komme und ihm helfe! 50 Aber Jesus schrie abermals
laut und verschied.

 

 

 

Der Predigttext steht heute, am Sonntag Reminiscere, im 5. Kapitel des Jesajabuches,
Vers 1-7. Ich lese während der Predigt immer wieder ein Stück davon vor.
Jesaja beginnt mit folgender Ankündigung:
1 Wohlan, ich will singen stellvertretend für meinen lieben Freund: ein Lied von
meinem Freund und seinem Weinberg.

Gebet:
Herr, dein Wort sei unsres Fußes Leuchte und ein Licht auf unserem Weg. Amen.

Predigt
Liebe Gemeinde, das, was wir sehen, ist nicht immer die ganze Wahrheit. Manchmal sehen wir etwas und meinen, wir wüssten etwas, aber in Wirklichkeit ist es ganz anders. Das ist nicht nur bei den berühmten Doppelbildern so, wo man je nach dem, wie man drauf schaut, zwei unterschiedliche Dinge sehen kann. Das kann uns auch mit Menschen passieren: Ich sehe ein glückliches Ehepaar. Nach außen hin wirken sie, als ob sie eine vorbildliche Ehe führen. Aber das ist nur Schein. In Wirklichkeit leben sie in getrennten Zimmern und haben sich schon lange nichts mehr zu sagen. Oder ich sehe einen Geschäftsmann. Er ist gut angezogen, trägt
eine teure Uhr und fährt ein entsprechendes Auto. Er wirkt kompetent und erfolgreich. Aber in Wirklichkeit kann er abends die hässlichen Erinnerungen aus seiner Kindheit nur mit Alkohol überstehen. Was wir sehen, ist nicht immer die ganze Wahrheit. Es ist oft nur ein Teil davon. Und manchmal ist der andere Teil der Wahrheit sogar das Gegenteil von dem, was wir zuerst sehen. In diesem Sinne lässt der französische Schriftsteller Antoine de St. Exupéry den kleinen Prinzen einmal einen Satz sagen, der sehr berühmt geworden ist: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Ja, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Das kommt vor.

Und bei der Kreuzigung von Jesus ist es genauso. Wir sehen etwas. Und was wir sehen, ist nicht falsch, aber es ist eben nicht die ganze Wahrheit. Es ist nur ein Teil davon. Wir sehen, wie ein Mensch ans Kreuz genagelt wird. Über ihm bringt man eine Tafel an, auf der das Verbrechen steht, das er begangen hat. „König der Juden“ steht da, also Aufruhr und Anstiftung zur Rebellion - der Versuch, den rechtmäßigen König zu stürzen und zu ersetzen. Sowas ist Hochverrat. Römische Soldaten sehen wir, die die Habseligkeiten des Sterbenden unter sich verteilen. Und schließlich sehen wir, wie der Mann am Kreuz stirbt. Todesstrafe nach römischem Brauch. Das alles sehen wir. Aber ist es die ganze Wahrheit? Da stirbt einer den Kreuzestod genauso wie vor ihm und nach ihm Tausende andere. Die Römer waren nicht zimperlich bei Rebellion. Sie haben eine Menge Leute gekreuzigt. Das Kreuz ist ein Zeichen des Todes. Auf Friedhöfen sieht man häufig das Kreuz als Todeszeichen. Oder in der Zeitung bei den Todesanzeigen. Das Kreuz bedeutet Tod. Das haben wir alle verstanden. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit.

Bestenfalls ist es eine Seite der Wahrheit. Das Kreuz, an dem Jesus gestorben ist, hat noch eine ganz andere Bedeutung. Die Wahrheit liegt nicht immer als erstes direkt vor Augen. Manchmal ist die Wahrheit noch etwas anderes und noch mehr als das, was wir sehen. Aber was ist denn die andere Wahrheit über das Kreuz von Jesus? Dazu hab ich ein Bild gefunden und es vorne aufs Liedblatt gesetzt. Es ist die Zeichnung aus einer mittelalterlichen Handschrift. Irgendein Künstler, vielleicht ein Mönch, den niemand heute mehr kennt, hat das gezeichnet. Er hat versucht, eine doppelte Wahrheit über das Kreuz zu malen, die sichtbare und die unsichtbare. Auch auf diesem Bild sehen wir den gekreuzigten Jesus. Man kann erkennen, dass das Sterben für ihn eine Qual gewesen ist. Er hängt da nicht als lächelnder Sieger. Die Augen sind geschlossen, Schmerz und Erschöpfung sind ihm ins Gesicht gezeichnet. Das Leiden ist hier sichtbar. Es ist Teil der Wahrheit. Das Leiden gehört auch zu unserem Leben, ganz real. Wir können davor nicht einfach die Augen verschließen. Auch wenn wir das manchmal gerne täten. Manchmal ist es schwer, all das Leid zu sehen. Freunde, die schwer krank sind, Bekannte, die ein Krebsdiagnose bekommen. Patienten auf Intensivstationen, die wir mit verpixeltem Gesicht in den Fernsehnachrichten sehen. Menschen, die seelisch leiden unter Einsamkeit, Sinnlosigkeit, Traurigkeit. Es gibt so viel Leid. Zu viel Leid. Und das ist die Realität. Schmerz, Trauer und Tod. Wir wollen das nicht gerne ansehen. Und doch spüren wir, dass es so ist. Und dass es auch uns betrifft. Die Welt ist voller Unheil. Wie unter einem Fluch. Das ist die eine Seite der Wahrheit. Ein kleines Virus verursacht große Schrecken. Und große Machthaber in vielen Länder verursachen ebenfalls mächtige Schrecken. Ungerechtigkeit, Leid und Tod. Manchmal möchte man gar keine Nachrichten mehr gucken. Und manchmal möchte man auch in der eigenen Nachbarschaft, im eigenen Freundeskreis gar nicht so genau hingucken hinter die schöne Fassade und hinter das höfliche Lächeln. Die Realität von Leid und Schmerz - der unbekannte Künstler, der dieses Kreuzigungsbild geschaffen hat, hat das gemalt. Er hat das Sterben von Jesus gemalt, die Qual in seinem Gesicht, den Fluch des Todes. Das alles ist ein Teil der Wahrheit.

Aber das Besondere an diesem Bild ist das Kreuz. Und damit kommen wir zum anderen Teil der Wahrheit. Es ist wie ein Baum gemalt. Man sieht den Stamm, an dem Jesus hängt, und die geschwungenen Zweige mit den Blättern. Im Baum sitzen Vögel. Links unten, das könnte ein Zaunkönig sein. Darüber vielleicht eine Schwanzmeise. Rechts ein Kreuzschnabel, der passt schon vom Namen her dazu. Das Kreuz auf diesem Bild ist ein Baum voller Leben. Das Zeichen für den Tod wird hier zu einem Zeichen für das Leben. Der unbekannte Künstler zeigt uns damit eine Wahrheit über das Kreuz, die wir nicht so einfach mit unseren Augen sehen
können. Wir sehen zuerst das Kreuz als Zeichen des Todes. Aber es ist in Wahrheit ein Zeichen des Lebens.

Die christliche Glaube und seine Deutung von Jesus‘ Kreuzestod erkennt, dass das Kreuz Leben bedeutet. Allerdings nicht einfach das biologische, irdische Leben mit Herzschlag Stoffwechsel, Blutkreislauf und Gehirnströmen. Es gibt noch ein anderes Leben. Das können wir hier noch nicht sehen oder gar seine Funktionen messen. Auch hier gilt: Das Wesentliche ist für unsere Augen unsichtbar. Und für unseren Verstand zu hoch. Dieses andere Leben, das ist unser ewiges Leben: unser Leben in Gottes unsichtbarer Welt. [Unser irdischer Leib, dieses Wunderwerk Gottes, vergeht. Für unser ewiges Leben brauchen wir einen anderen Leib. Paulus spricht einmal vom irdischen Leib für unser irdisches Leben und vom geistlichen Leib für das ewige Leben.]

Und jetzt sagt uns dieses alte Bild: Aus dem Kreuz von Jesus erwächst dieses andere Leben, das ewige Leben. Dort am Kreuz, wo wir denken, da ist nur Tod, dort liegt der Ursprung für das ewige Leben in Gottes unsichtbarer Welt. Genau dort. Dort am Stamm des Kreuzes ist der 5 Fluch des Todes, der über dieser Welt liegt, gebrochen. Er ist überwunden. Am Kreuz ist Leben.

Darum, wenn ich für mich Kraft brauche, um das Leiden in dieser Welt noch auszuhalten, dann schaue ich aufs Kreuz. Und wenn ich nach Hoffnung suche, dass auch das Leiden und die Schmerzen dieser Welt nicht völlig sinnlos sind, dann schaue ich aufs Kreuz. Und wenn ich das Leben finden will, das wirkliche, ewige, wesentliche Leben, das diese Zeit überdauert, dann schaue ich aufs Kreuz. Und wenn ich Gott finden will, dann schaue ich aufs Kreuz. Das Kreuz ist nicht nur Zeichen des Todes. Es ist auch Zeichen des Lebens.

Schauen wir nochmal auf das Bild. Es gibt da noch einen besonderen Vogel, ganz oben. Er sitzt genau über dem Kopf von Jesus. Die Dornenkrone wirkt fast wie sein Nest. Es ist ein Phönix. Dieser Vogel ist ein Fabelwesen der antiken Mythologie. Schon die Ägypter kannten den Phönix, später dann die Griechen. Und heute alle Harry Potter Fans. Die Mythologie erzählt, dass der Feuervogel Phönix alle hundert Jahre verbrennt, um dann aus seiner Asche wieder neu zu entstehen. Der Phönix ist ein uraltes Symbol dafür, dass der Tod und die Zerstörung nicht das letzte sind. Sondern mitten aus dem Tod heraus, aus der Asche entsteht neues Leben. Der Phönix ist nur ein Fabelwesen, ein alter Traum der Menschheit, bestenfalls eine schwache Vorahnung, dass aus Leiden und Sterben heraus neues Leben wächst. Aber Jesus war kein Traum und kein Fabelwesen und keine diffuse Ahnung. Jesus war wirklicher Mensch. Und gleichzeitig wirklicher Gott. Aus seinem Tod heraus ist wirklich neues Leben entstanden. Für ihn zuerst. Er ist auferstanden. Aber auch für uns. Gott wird auch uns auferwecken. Ihr Lieben, wenn wir auf Jesus schauen und an ihn glauben – dann erleben wir trotzdem Leiden und Tod und Unheil. Aber aus dem Tod heraus gibt es auch für uns neues Leben, ewiges Leben. Das ist unser christlicher Glaube. Darum sitzt hier dieser Phönix im Kreuzesbaum. Schauen wir uns noch einmal das Bild vom Kreuz an. Was sehen wir? Tod, Sterben, das Leiden von Jesus und das Leiden von Millionen von Menschen? Sehen wir nur das, was vor Augen liegt? Oder sehen wir auch die andere Wahrheit? Die unsichtbare, die der Künstler hier versucht hat sichtbar zu machen? Jesus stirbt am Kreuz, um den Fluch des Todes, der über unsrer Welt liegt, zu überwinden. Aus seinem Kreuz wächst Leben heraus. Lebendiges, frisches, gründendes, singendes Leben wächst aus diesem Stamm heraus. Ewiges Leben. Amen.