Predigt zum Nachlesen

Predigt zum Sonntagsevangelium des 1. Sonntags nach Trintitatis, dem Gleichnis vom Reichen Mann und armen Lazarus (Lukas 16,19-31), am 6. Juni 2021 in den Evang. Kirchen Langenwinkel und Hugsweier von Pfr. i. R. Peter Scherhans, Offenburg

Liebe Gemeinde,

„Money makes the world go round.“ Daran hat sich seit Jesu Zeiten wenig geändert.

Wer Geld hat, hat das Sagen. Wer finanzielle Möglichkeiten hat, wird umworben. Nicht zufällig gibt es einen Gleichklang von Geld und Geltung. Und genau dieser Zusammenhang macht Geld so verführerisch. Denn Geld verschafft Einfluss. Geld verspricht Anerkennung. Geld bringt mich in die Schlagzeilen. Geld fördert die Aufmerksamkeit, die mir geschenkt wird. Wem es gelingt, die Aufmerksamkeit möglichst vieler auf sich zu lenken, steht in einer Mediengesellschaft hoch im Kurs. Wer viele Follower hat, ist King oder Queen im Netz. Wer die Einschaltquoten hochschnellen lässt, hat gute Chancen, Meinungsführerschaft zu gewinnen, also Meinungen und Haltungen vieler zu prägen. Wir alle sind irgendwie Teil dieses ständigen Kampfes um Deutungshoheit, um die Kraft, maßgeblich zu beeinflussen, was in unserem Zusammen-leben Geltung haben soll. Deutungshoheit heißt: wesentlich mitzubestimmen, wer als Gewinner gilt in unserer Gesellschaft und wer als Verlierer. Wer etwas zählt und wer nicht. Wer mitkommt und wer zurückbleibt. Wer Beachtung verdient, und wer nicht.

Aber genau gegen diese Denke, die die Welt aufteilt in Gewinner und Verlierer, geht Jesus leidenschaftlich an, indem er das Gleichnis erzählt, das unser heutiges Sonntagsevangelium ist. Gewiss ist es auch kein Zufall, das er es zunächst Menschen mit auf den Weg gab, von denen es wörtlich heißt, dass „sie am Geld hingen.“ Jesus will irritieren. Damals genauso wie heute. Und es ist eine heilsame Irritation, die er auslöst mit seinem anschaulichen, unmittelbar berührenden Gleichnis, damals wie heute.

Heilsam ist die Irritation, weil sie uns darauf aufmerksam macht, dass nicht die Meinungsmacher von heute, die, die in unseren Tagen die Deutungshoheit haben, das letzte Wort über unser Leben sprechen. Sondern dass Gott es ist, dem allein die letzte Deutungshoheit über unser Leben gebührt. Wir mögen hadern mit unserem Schicksal. Ich mag mir glücklos vorkommen in allem, was ich anpacke in meinem Leben. Gott könnte es am Ende anders sehen. Er ist es, der am Ende die Deutungshoheit hat. Diese Gewissheit empfinde ich als außerordentlich befreiend. Ich brauche das letzte Wort über mein Leben nicht selbst zu sprechen. Ich brauche auch das Leben anderer nicht zu beurteilen.

Aber entlassen aus meiner Verantwortung bin ich deshalb noch lange nicht. Das Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus führt uns im Gegenteil den großen Ernst vor Augen, der all unserem Tun und Lassen in unserem ganz alltäglichen Leben zukommt. Es macht einen Unterschied, ob ich ein Auge und ein Herz habe für den armen Lazarus in meinem eigenen Lebensumfeld, oder eben nicht. In seinem Gleichnis lässt Jesus den reichen Mann merkwürdig unbestimmt. Er beschreibt zwar seinen Wohlstand. Allein zur Herstellung der  Purpurfarbe seines Gewandes mussten bis zu 12.000 Purpurschnecken geopfert werden. Jesus erzählt auch, dass der reiche Mann sein Leben in vollen Zügen genossen habe. Aber Jesus sagt von ihm nicht, dass er ein Wucherer sei oder seine Arbeiter geschunden habe. Vielleicht war dieser Reiche sogar jemand, der seine Beiträge zum Tierschutzverein zahlte und auch Kirchensteuer und immer wieder mal etwas gab für „Brot für die Welt“. Was war dann der Fehler, den der Reiche in seinem Leben machte? Er übersieht Lazarus und geht ihm aus dem Weg. Das ist der Krebsschaden am Leben des reichen Mannes. Er hat kein Auge für Lazarus und kein Herz für ihn. Daran geht der Reiche zugrunde. Nicht also der Reichtum an sich hat den Reichen in die Hölle gebracht, genauso wenig wie die Armut den Armen in den Himmel. Armut ist keine moralische Qualität und ganz sicher kein Segen. Armut kann auch entsetzlich entmenschlichen. Vielleicht liegt der Schlüssel im Namen des armen Mannes. Denn der wird ausdrücklich genannt, im Gegensatz zum reichen Mann, der anonym bleibt. Der Name Lazarus  bedeutet auf Deutsch soviel wie: Gott ist meine Hilfe! Lazarus ist immer der Bittende, nichts gibt es, was ihm im Leben noch Halt geben könnte. Er ist hoffnungslos Opfer geworden im Räderwerk eines scheinbar blinden Schicksals. Da ist nichts, was ihm noch helfen könnte, und dennoch schreit er in seiner Not zu Gott. Dafür steht der Name Lazarus: Für einen Menschen, der keinen Boden mehr unter den Füßen hat und der trotzdem auf Gott setzt, in aller abgrundtiefen Verzweiflung festhält am vielleicht nur noch hauchdünnen Faden der Verbindung zu Gott.

Wir werden die Deutungshoheit Gottes über unser Leben nicht enträtseln, wenn an dieser Stelle der Schleier, und zwar von Jesus selbst, ein wenig gehoben wird und wir – für einen Augenblick nur – Einblick bekommen in die Logik der göttlichen Deutungshoheit. Jesus selbst lässt uns in Gottes Herz schauen und im Bild von „Abrahams Schoß“, in dem Lazarus sich nun befindet, sehen wir: Gott hat ein Auge für Lazarus. Gott hat ein Herz für Lazarus. Gott hat den Aufschrei des Menschen gehört, der der Ungerechtigkeit so ohnmächtig ausgeliefert ist. Das ist die Antwort, die Gott den Opfern gibt, den Opfern von Unrecht und Gewalt, den Opfern von Hunger und Armut, den Opfern der Geschichte, die wir – zumindest was die Gegenwart und Zukunft angeht – doch mitverantworten.

Liebe Gemeinde, wo kommen wir, wo kommen Sie und ich im Gleichnis, das Jesus erzählt, am ehesten vor? Die meisten von uns sind ja weder reich noch arm. Ich glaube, wir gehören zu einem der fünf Brüder, die mitten im Leben stehen und für die der Reiche bittet: „Ich habe noch fünf Brüder, schicke Lazarus hin, dass er sie warne.“ Das Nein des Abraham auf diese Bitte mögen wir als erschreckend hart empfinden. Er verweist hingegen auf Mose und die Propheten und auf die Kernbotschaft, die von diesen ausging. Die müsse genügen. Einen Hinweis auf diese Kernbotschaft können wir jedoch auch der Gleichniserzählung selbst, die Jesus uns auf den Weg gibt, entnehmen. Im irdischen Leben war es nur eine Tür, die den reichen Mann vom armen Lazarus trennte und trotzdem gab eine keine wirkliche Beziehung zwischen den beiden, weil der Reiche sie verwehrte. Im ewigen Leben aber sehnte sich der Reiche nach genau dieser persönlichen Beziehung zu Lazarus, den er nun aus der Ferne, aber jetzt unerreichbar sichtete. Zwischen ihnen tat sich, so wörtlich, „eine große Kluft“ auf, unüberbrückbar.  Gibt uns dies, liebe Gemeinde, nicht den entscheidenden Hinweis? Könnte es sein, dass alles darauf ankommt, die Türen durch-lässig zu machen, um die wahrzunehmen, die uns im übertragenen Sinn des Wortes „vor die Tür gelegt“ sind und unserer Zuwendung bedürfen? Liegt unsere besondere Verantwortung darin, Brückenbauer zu sein, die die Kluft überwinden, die uns von denen trennt, die aus dem Blick geraten sind – als Looser, als vom Schicksal Geplagte, als Gedemütigte?

In letzter Zeit ist mir auf einer Vielzahl von Wänden ein Graffitti aufgefallen mit den Worten: "Leave no one behind". Zu deutsch:  Lasst keinen zurück! Ein Aufruf, der aus dem Mund Jesu hätte stammen können. Denn von ihm wissen wir: Seine besondere Aufmerksamkeit galt denen, die am Rande standen, denen, die von sonst niemandem gesehen und beachtet wurden. Ihnen, den besonders Verwundbaren, wand er sich vorrangig zu.

Diese Haltung haben sich Jesu Nachfolgerinnen und Nachfolger nicht immer, aber doch unausrottbar zu eigen gemacht. Der Vorrang der Schwachen wurde zum gar nicht selbstverständlichen Maßstab des diakonischen Handelns der Kirche über Jahrhunderte hinweg und damit zu einem Gegenmodell gegen die weitverbreitete gesellschaftliche Praxis, die  - vom Sozialdarwinismus geprägt - besagt: Der Stärkere, der mit Macht und Einfluss und mit realen Zukunftschancen Ausgestattete setzt sich durch. Dem haben Christinnen und Christen immer schon entgegengesetzt: Lasst niemanden zurück. Für dieses „Leave no one behind“ haben sich kirchliche Entwicklungswerke weltweit stark gemacht, als es vor 6 Jahren darum ging, dass die Vereinten Nationen eine globale Vereinbarung zu verbindlichen neuen umfassenden Entwicklungszielen vorlegen sollten, die sogenannten „Sustainable Development Goals“. Im Vorfeld haben die Staaten der UN und Nichtregierungsorganisationen intensiv um den Text gerungen. Im Ergebnis, das an Bedeutung der UN-Klimavereinbarung von Paris mindestens gleichkommt, findet sich nun prominent die gemeinsame Maxime „Leave no one behind“. Eigentlich gleicht dies einem Wunder. Schöner noch: das Leitmotiv „Lasst niemanden zurück“ hat weltweit Beine bekommen und findet sich nun, auch ganz ohne Bezug zu den Nachhaltigen Entwicklungszielen der UN, als mahnendes und ermutigendes Graffitti-Motto auf vielen Mauern und Laternenpfählen. In der Pandemiebekämpfung hatte und hat dieser Satz „Leave no one behind“ eine heftige Bewährungsprobe, und im Kontext der Seenotrettung auf dem Mittelmeer klingt er fast wie ein Verzweiflungsschrei. Doch der Grundgedanke, den dieser Satz aufnimmt, der ist nun weltweit fest verankert – in den Köpfen und Herzen ungezählter Menschen, so als hätten sie alle schon einmal gehört von dem, was Jesus über das Verhältnis vom reichen Mann und armen Lazarus erzählt hat.

Amen.