Predigt zum Nachlesen

Predigt am 12. So. n. Trinitatis - 22.8.2021

Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen,
den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. Jes42, 3f

Liebe Gemeinde!,
Gott sei Dank ER tut das nicht!.
Gott sei Dank für alle angeknacksten Existenzen: sie haben Hoffnung, wenn sie auf den schauen, von dem hier die Rede ist:

Er zerbricht das angebrochene Schilfrohr nicht,
er löscht den gerade noch glimmenden Docht nicht aus –

Anschauliche Bilder werden hier gebraucht für unanschauliche Gestalten:
Angeknackste Existenzen, looser statt winner, Verlierertypen, nicht von den ewigen Strahlemännern der Werbung ist hier die Rede, die immer gut drauf sind, immer auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen scheinen, nein, Menschen bekommen hier Lebensrecht,
die im gnadenlosen Existenzkampf hinten runter fallen,
Menschen, die nicht mehr mitkommen, wenn „mehr“, „schneller“, „besser“, „klüger“, gefordert wird,
Menschen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chancen haben, denen der Berufsberater bei der Serviceagentur für Arbeit keine Hoffnung machen kann:
Angeknackste Existenzen sind nicht zu vermitteln: Über 50, Langzeit arbeitslos, behindert, keinen Führerschein, keine guten Deutschkenntnisse, alleinerziehend -

was auch immer zusammenkommt, wenn erst mal einige dieser Attribute im Computer stehen, dann hat er oder sie keine Chancen mehr, vielleicht einen Ein-Euro-Job.
Wenn einer etwas werden will, etwas darstellen will in unserer Gesellschaft, dann werden von ihm eher folgende Eigenschaften verlangt:
Durchsetzungsfähig, kompetent, mehrsprachig, Berufserfahrung, aber nicht über 35 Jahre alt, dynamisch, und unendlich kreativ.

Gut, liebe Gemeinde, dass der Wochenspruch aus dem Jesajabuch hier eine andere Sprache spricht.
Da heißt es :Er wird das angebrochene Rohr nicht zerbrechen, den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.

In welcher Situation wurde dieser Text zum 1.mal gesprochen?:

Nachdem Das Volk Israel in die Gefangenschaft getrieben wurde, nachdem sie in der Ferne sich nach der Heimat und dem Tempel in Jerusalem sehnten, kommt nun der, den wir den 2. Jesaja nennen und bringt im Namen Gottes die Trostbotschaft, die Händel im „Messias“ in so wunderbare Musik umgesetzt hat:

Nicht mehr Gericht soll über das ungehorsame Volk gehalten werden, sondern „Tröstet, tröstet mein Volk“ lässt Gott seinen Boten ausrufen. Die Knechtschaft, die Erniedrigung soll ein Ende haben.

Und der der kommen soll, der Erlöser , er wird Einer sein, der das geknickte Rohr nicht zerbricht und den glimmenden Docht nicht ausdrückt.

Die ersten Christen haben nicht lange gebraucht, bis sie dieses Trostwort auf Jesus Christus übertragen haben und in ihm den Tröster Israels und dann auch der ganzen Welt sahen.
Er hatte ja in seinem Leben das vorgelebt, was hier von dem Kommenden angekündigt wurde: Er hatte die angeknacksten Existenzen zu sich gerufen, er war auf die zugegangen, die abseits der besseren Gesellschaft standen, er hatte sich von ihrem Vorleben nicht abschrecken lassen, sondern als Botschafter der Liebe Gottes zu allen Menschen war er gerade auf die zugegangen, die die anderen stehen ließen, mit denen sie nichts zu tun haben wollten, weil sonst deren schlechter Ruf auf sie selber fallen konnte.
Diese Angst hatte Jesus nicht – und prompt wurde er Fresser und Weinsäufer genannt ein „Freund der Sünder, der Betrüger“

Natürlich wissen wir das alle von Jesus, es gehört zu unserem Bild von Jesus dazu. Schon im Kindergottesdienst haben wir die schöne Geschichte von Zachäus gehört, der zu klein ist und deshalb auf den Maulbeerfeigenbaum klettert, um Jesus zu sehen – und gerade bei ihm; dem stadtbekannten Betrüger; kehrt Jesus ein - auch eine angeknackste Existenz, die Jesus nicht zerbricht, sondern wieder aufrichtet.

Weil wir aber diese Geschichten aus der Bibel, der Heiligen Schrift kennen, haben sie für uns nichts mehr Anstößiges. Sie gehören zu den Heiligen Schriften und wer wollte daran Anstoß nehmen?

Aber; wenn seine Botschaft umgesetzt wird in unserer Zeit, wenn einer sich zu sehr für angeknackste Existenzen einsetzt, dann kann das sehr schnell Anstoß erregen.

Als Student hat mich das sehr beeindruckt,

Als Bischof Schaf in Berlin die Terroriatin , Mitglieder der Baader-Meinhof-Bande, Ulrike Meinhof im Gefängnis besuchte - traten damals in Berlin einige hundert, wenn nicht tausende Menschen aus der Kirche aus, weil sie hier nicht ein Beispiel aus der Heiligen Schrift, sondern aus dem Alltag einer Großstadt erlebten.

und als Erich Honecker, nicht mehr Staatsratsvorsitzender, sondern zum best gehassten Mann in der ehemaligen DDR geworden war und ein Pfarrer ihn und seine Frau in seinem Haus auf nahmen, da traten wieder etliche aus der Kirche aus, weil sie das mit dem angeknackten Existenzen, und dem geknickten Rohr und dem glimmenden Docht doch so wörtlich nicht nehmen wollten.

Liebe Gemeinde, wir sind nicht Bischof Scharf und Erich Honecker klopft nicht bei uns an der Tür, aber dieses Wort:
er wird das geknickte Rohr nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen,
will auch von uns verwirklicht werden, wenn wir in der Nachfolge von Jesus heute stehen wollen – und das wollen wir doch, darum sind wir heute morgen in die Kirche gekommen.

Glimmender Docht, geknicktes Rohr – dass kann auch
* der gescheiterte Kollege sein, der Freund, der keine super Karriere vorweisen kann,
*der alte Mensch, der auf einen Besuch wartet, der von sich selbst glaubt: ich bin nicht mehr attraktiv, ich kann meinen Besuchern nichts mehr bieten,

glimmender Docht, geknicktes Rohr,
* das kann der psychisch kranke Mitmensch sein, der manchmal so schwer zu ertragen ist,
glimmender Docht, geknicktes Rohr
* kann auch einer von den Vielen sein, die fremd in unser Land gekommen sind und noch kommen werden, weil sie in ihrer Heimat Not und Verfolgung erfahren haben, nicht nur in Afganistan – wir wissen heute, es sind auch ein paar dabei, die nicht gut sind, die sich hier nicht wie Gäste benehmen, aber die Mehrheit sind Menschen wie du und ich, die das Pech hatten in Syrien oder Afghanistan geboren worden zu sein und deren Land nun im Krieg und Bürgerkrieg zu versinken droht.
Kaum einer verlässt freiwillig seine Heimat, den Ort wo die Generationen seiner Familie, seines Volkes gelebt haben
um so mehr tut es ihnen gut, wenn sie hier bei uns auf Menschen treffen,
MIT – Menschen, die sie annehmen, die helfen, dass die mühsam glimmende Hoffnung, wieder zur Flamme der Hoffnung in ihnen wird.
* Glimmender Docht, angebrochenes Rohr -
* das kann der Obdachlose sein, der mich in der Stadt um einen Euro anbettelt, der keine saubere Kleidung trägt, vielleicht so gar unangenehm riecht
Dazu möchte ich ihnen einige Sätze aus dem Tagebuch eines Obdachlosen vorlesen (
– jedes der erwähnten beispiele könnte ausführlicher dargestellt werden und hätte es verdient, dazu reicht heute die Zeit nicht.)

„Die Erde ist mein Kühlschrank. Ich kann nur Sachen nehmen, die länger halten. Ich darf nichts herumliegen lassen. Meine nächsten Nachbarn sind Ratten. Ich höre sie in den Büschen, ich sehe sie über den Stein flitzen, in die nächste Lücke. Wenn sie Nahrung riechen, kommen sie näher. Es ist am besten, nie dort zu schlafen, wo man isst. Wenn doch, muss alles gut verschlossen sein – sonst kommen eben die Ratten und wollen ihren Anteil haben.(126)

Man kann vieles verstecken, nur seine Scham nicht. Die Menschen distanzieren sich angeekelt von einem . Man isoliert sich. So entfernt man sich immer weiter und zieht sich unter seine Kapuze zurück als letztes Versteck. (131)
Dass, was einem fehlt, ist die Lebensfreude der anderen auf der Straße im Sommer. Während alles um einen herum aufblüht, verwelkt man selbst innerlich. Man geht ein, denn man ist allein. Alle Wege auf der Straße führen in die Einsamkeit.(131f)
Deshalb sind die kleinen Gesten so wichtig, weil sie denen auf der Straße zeigen, dass sie nicht ganz allein sind, dass sie gesehen werden, darum: Schaut bitte nicht weg. Es ist so einfach zu helfen. Bei Hitze rettet Wasser Leben. Verschenken wir auch einmal ein Eis oder ein kaltes Getränk wenn es heiß ist und geben etwas von unserem Glück ab, einen kleinen Geschmack des Sommers.(132)
Nette Worte und ein Gespräch können schon viel bedeuten, das Gefühl, nicht alleine, irgendwo noch ein Teil des Ganzen zu sein.“ (133)

(Zitate aus : Unter Palmen aus Stahl von Dominik Bloh, Geschichte eines Strassenjungen)

Glimmender Docht, geknacktes Rohr, das können schließlich auch wir selbst sein, wenn wir in den Spiegel schauen und so ganz und gar nicht mit uns zufrieden und im Einklang sind,
wenn wir selbst mehr und Besseres von uns erwarten – aber dann doch an unseren eigenen Ansprüchen gescheitert sind oder unserer Bequemlichkeit,
vielleicht sind wir glimmender Docht, angeknackst in unserer Existenz, weil sich ein uns lieben Menschen von uns getrennt hat und wir nur mühsam einen Schritt vor den nächsten tun können.
Weil er oder sie uns so fehlt -

dann dürfen auch wir uns diesem Herrn anvertrauen, uns bei ihm bergen, der den glimmenden Docht in uns nicht auslöscht und unsere angeknackste Existenz nicht zerbrechen, sondern aufrichten will.
Er sagt auch für uns:
Kommt, her, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken, ich will euer Herz froh machen, ich will euch in meine Arme schließen und mit euch gehen in euer Scheitern, euer Versagen, in eure Niedergeschlagenheit, eurem Urteil über euch selbst, in eureTrauer.

Das alles soll nicht das letzte sein in eurem Leben, sondern ihr dürfte jeden Morgen neu beginnen: Mit euch selbst, mit dem Mitmenschen und mit Gott.

Gott sei Dank. Er will uns Hoffnung geben, jeden Tag neu,
auch heute und morgen.
Folgen wir ihm auf dem Weg zu den angeknacksten Existenzen.
Sie warten auf uns, auch in der kommenden Woche!
AMEN

Eckhard Weißenberger
Pfr.i.R. Bahlingen