Predigt zum Nachlesen

Predigt am 21. Sonntag nach Trinitatis, 24. Oktober 2021 in Hugsweier und Langenwinkel von Prädikantin Dorothea Brasch-Duffner

Wir hören Worte aus der Heiligen Schrift aus Matthäus 5 die Verse 38-48

Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2. Mose 21,24): "Auge um Auge, Zahn um Zahn." Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.

Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei.

Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will. Ihr habt gehört, dass gesagt ist (3. Mose 19,18): "Du sollst deinen Nächsten lieben" und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner?

Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden?

Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.

Herr segne du Hören und Reden. Amen.

 

Liebe Gemeinde,

eindrückliche Worte haben wir gehört.

Wie schön wäre es doch in der Welt, in unseren Familien, in der Nachbarschaft und Gemeinde, wenn Menschen so miteinander umgingen, wie Jesus es beschreibt. Das wäre der Himmel auf Erden. Gottes Reich mitten unter uns.

Der heutige Predigttext gehört zur Bergpredigt, ein Bibelabschnitt, der Menschen zu allen Zeiten zutiefst bewegt hat. Unsere Sehnsucht nach Frieden und Großherzigkeit, nach einem Zusammenleben ohne Gewalt, ohne Hass und Familienstreitigkeiten wird berührt.

Und immer wieder haben Menschen entdeckt, gespürt und geglaubt: Diese Worte sind wie eine Tür, durch die wir das neue Leben sehen, das Gott uns zugedacht hat.

 Aber das ist nur die eine Seite. Auf der anderen Seite haben diese Worte Menschen und die Kirche auch in große Bedrängnis gebracht: Denn gemessen an dem, was wir erleben und was in der Welt zählt, klingen diese Worte nicht wirklich alltagstauglich.

Wenn ich auf mir zugefügte Gewalt – ob nun körperliche oder seelische Gewalt – mit Liebe, mit Verzicht auf mein Recht und mit Leidensbereitschaft antworte, wird das z.B. irgendeinen, der mich mobbt, zur Einsicht bringen? Wird es meinem Kind wirklich weitere Demütigungen auf dem Schulhof ersparen? Müsste ich da nicht ab und zu eher sagen: »Wehr dich«?

 Ist es manchmal nicht sogar geboten, mit Gewalt gegen Gewalt vorzugehen, um weitere Gewalt zu verhindern? Wie soll man im Alltag nach diesen Worten Jesu leben?

 II.

 Durch die Jahrhunderte hindurch hat es verschiedene Versuche einer Antwort gegeben: Im Mittelalter hieß es: Die Worte Jesu in der Bergpredigt gelten nur für jene, die einem besonderen geistlichen Stand angehören, also für Mönche, Nonnen und Priester. Für die »Normalsterblichen« reicht es, wenn sie die Zehn Gebote einhalten.

Das hat lange nachgewirkt. Bis zur Abschaffung der Wehrpflicht waren Priesteramtskandidaten von der allgemeinen Wehrpflicht befreit und im Zuge der Gleichbehandlung galt dies auch für evangelische Theologiestudenten. Von einem Priester und Pfarrer kann man nicht erwarten, dass er das Gebot der Feindesliebe ignoriert und auf Menschen schießt.

Martin Luther suchte einen anderen Ausweg und sagte: Als Christ und Privatperson habe ich auf Widerstand zu verzichten, Unrecht zu erleiden und unbedingte Liebe zu üben. Habe ich aber ein öffentliches Amt, dann muss ich als Christ meine Macht gebrauchen und unter Umständen Gewalt einsetzen. Etwa wenn es gilt, den Schwächeren zu schützen oder das eigene Land zu verteidigen.

Wieder andere meinten, die Bergpredigt ist nur ein Spiegel, der unsere Unfähigkeit entlarven soll. Durch die Worte Jesu soll uns klar werden, dass wir unverbesserliche Sünder sind und immer auf die Gnade Gottes angewiesen bleiben.  Aber sind das wirklich befriedigende Antworten? Wird den Worten Jesu damit nicht doch ihre Radikalität genommen? 

III.  

Die Ansprüche, die Jesus formuliert, sind hoch, und es liegt nahe, schnell vor ihnen zu resignieren. Doch sie locken uns mit Phantasie und Klugheit in das Reich Gottes hinein, das mit Jesus unter uns begonnen hat. 

Schon die Worte »Auge um Auge, Zahn um Zahn« aus dem 2. Buch Mose geben dafür ein gutes Beispiel: Immer wieder wurden diese Worte als Aufruf zur Vergeltung verstanden: »Wie du mir, so ich dir«. Oder sie wurden antijüdisch ausgelegt, galten als dunkler alttestamentlicher Hintergrund vor dem sich die Worte Jesu umso leuchtender abhoben.

Das ist ein großes Missverständnis. Hier geht es nicht um Vergeltung, sondern um erste kluge Schritte, Gewalt einzudämmen, indem man Entschädigung verlangt.
»Auge um Auge, Zahn um Zahn« bedeutet – kurz gesagt – Schmerzensgeld zahlen. Ein Auge ist wertvoller als ein Zahn, also ist dafür auch mehr Schadensersatz zu zahlen. Das Prinzip gilt auch heute. Für Schaden, den man einem anderen zugefügt hat, muss man aufkommen. 
 

Das ist gut so, weil gerecht. Wie ungerecht und bitter ist es dagegen, wenn Unfallopfer hart um eine finanzielle Entschädigung kämpfen müssen.  

»Auge um Auge, Zahn um Zahn«, Ausgleichszahlung als Mittel gegen überbordende Gewalt – das leuchtet ein. Doch Jesus geht darüber hinaus und sagtWenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.

Wenn jemand dir deinen Rock nehmen will, dem lass auch den Mantel; wenn dich jemand zwingt, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh mit ihm zwei.  

Jesus fordert heraus, weiter zu denken, nicht stehen zu bleiben bei dem alten Motto »wie du mir, so ich dir« oder »man kann sich doch nicht alles gefallen lassen«. Jesus hinterfragt diese Selbstverständlichkeit. Er stößt uns darauf, dass es auch anders gehen kann, z.B. der Gewalt etwas Überraschendes, etwas »Entwaffnendes« entgegen zu setzen.  

Stellen Sie sich ganz praktisch vor:  Ihr Nachbar hat sich über sie geärgert. Wütend kommt er zu Ihnen, steigert sich in seine Wut immer mehr hinein und schlägt Sie auf die Backe. Sie sagen: »Einen Moment bitte«, nehmen ihre Brille ab und sagen: »Jetzt können Sie mich auch auf die andere Backe schlagen«. Meinen Sie, er würde nochmal zuschlagen? Oder geben Sie ihm durch diese überraschende Reaktion die Chance, sich zu besinnen?   

Die andere Backe hinhalten; nicht nur den Rock, sondern auch den Mantel geben; nicht eine, sondern zwei Meilen mitgehen, das sind im Grunde Anstöße für phantasievolle, kluge gewaltfreie Reaktionen. Sie brauchen mehr Umsicht und Weitsicht als jede spontane Gegengewalt. Das erlebt jeder, der versucht, mit seinem streitsüchtigen Ehepartner oder Kollegen im Frieden zu leben. Das erleben Jugendliche, die sich in ihren Schulen zu Streitschlichtern ausbilden lassen. Bei Konflikten zwischen einzelnen Schülern oder Gruppen, treten die Streitschlichter in Aktion. Gemeinsam mit den Betroffenen suchen sie nach einem gewaltfreien Weg, den Konflikt zu lösen. Nichts was hier geschieht, und sei es noch so klein, ist umsonst. 

Jesu Worte sind kein Befehl: Verzichte auf Gegengewalt. Sondern sie sind die große Einladung, das Leben aus einem anderen Blickwinkel heraus zu sehen als aus der ewigen Perspektive des Haders, des Streits und der Feindschaft. Unserer Sicht auf eine unfriedliche Welt stellt Jesus die Perspektive Gottes, die Perspektive des Himmels gegenüber.

Es ist eine Einladung, das Leben von der Seite der Liebe her zu sehen, von der Seite Gottes.  

Das wird besonders deutlich in der letzten und größten Zumutung von der Jesus spricht: »Ihr habt gehört, dass gesagt ist »Du sollst deinen Nächsten lieben… (1) ich aber sage euch: Liebet eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen«.

Wer ist für Sie Ihr Feind? Vermutlich der Mensch, der Ihnen Schaden zugefügt hat. Die Verwandten, die einen beim Erbe über den Tisch gezogen haben. Der Partner, der aus heiterem Himmel erklärt, dass er keine Liebe  mehr für einen empfindet. Die Mitsängerin im Kirchenchor, die durch Klatschgeschichten ihre Familie im Ort in Verruf gebracht hat…  

Da ist der (auch berechtigte) Zorn und die Empörung. 

Da ist aber auch dieses Bibelwort »Liebet eure Feinde«. Es stellt sich meinen Feindgeschichten in den Weg, es beunruhigt, bringt zum Nachdenken. Doch wie soll ich für diese Menschen Liebe aufbringen?  

Jesus redet nicht von der Liebe, die wir mit tiefen Gefühlen verbinden. Er meint auch keine Sanftmut, die für alles, was einem zugefügt wurde, immer schon Verständnis hat.

Die Liebe, von der Jesus spricht, ist eine Haltung. Ist ein neuer Blick auf den anderen. Jesus zwingt uns nicht, Feinde zu Freunden zu erklären. Aber er will, dass wir in ihnen mehr als Feinde sehen: sie sind Mitmenschen, die wie du und ich von Gottes Fürsorge leben. Die Sonne geht über allen auf, wie es auch über allen regnet, ob wir das nun gerecht finden oder nicht. Das ist die Vollkommenheit Gottes, dass er die Gaben seiner Schöpfung allen zukommen lässt, und nicht nach dem Prinzip der Vergeltung handelt.  

»Liebet eure Feinde…«

Ein erster Schritt kann sein, darauf zu verzichten, dem Feind zu schaden, darauf zu verzichten, sich an ihm zu rächen. Das ist schwer genug. Doch weiteres kann daraus erwachsen  

IV.

 Liebe Gemeinde,  »ihr habt gehört, dass gesagt ist, …ich aber sage euch« – Jesus ruft hier nicht zur Verwirklichung von Idealen auf. Daran würden wir kläglich scheitern und müssten über unser Unvermögen verzweifeln.  

Jesus spricht seine Worte, weil Gottes Reich mit ihm mitten unter uns ist. In ihm hat Gott Himmel und Erde verbunden. Das ist der weite Horizont unter dem wir unterwegs sind. Unterwegs in eine neue Welt, für die Christus gerade steht. Auch wenn wir immer wieder scheitern und ratlos zurückbleiben, er kommt uns entgegen und reicht uns die Hand. Wir können aufstehen. Wir können mit Phantasie und Kraft den Weg seiner Liebe aufs Neue mitgehen.

Deswegen sagt er zu uns: Seid vollkommen, seid die Menschen, die ihr in Gottes Augen schon seid. Nämlich erlöst, befreit zur Liebe zum Menschen und zu Gott.   Amen