Predigt zum Nachlesen

Predigt am 11. September 2022 von Pfarrer Axel Malter

 

Schriftlesung u. Predigttext: Lukas 15, 1-7

1 Es nahten sich allerlei Zöllner und Sünder, um Jesus zu hören.

2 Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.

3 Jesus sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach:

4 Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eins von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet?

5 Und wenn er's gefunden hat, so legt er sich's auf die Schultern voller Freude.

6 Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war.

7 Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.

Predigt:

Liebe Gemeinde,

„Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ So hat Jesus selber seinen Auftrag zusammengefasst. Das ist seine Mission. Das ist wie eine Überschrift über dem Leben von Jesus. Suchen und selig machen, was verloren ist. Das Gleichnis vom verlorenen Schaf ist wie eine Illustration für diesen Auftrag von Jesus. Es ist wohl eines seiner bekanntesten Gleichnisse. Es gibt die Geschichte als Bilderbuch oder als Ausmalbuch schon für die Allerkleinsten. Und im Religionsunterricht in der Grundschule steht sie in der ersten Klasse auf dem Lehrplan. Kinder haben Angst vor dem Verlorengehen. Manchen ist das auch schon mal passiert, dass sie verloren gegangen sind, im Schwimmbad oder im Kaufhaus oder sonst wo standen sie plötzlich ganz alleine da in einer fremden Umgebung für eine gefühlte Ewigkeit. Sie identifizieren sich deshalb unmittelbar mit dem verloren gegangenen Schaf. Und sie freuen sich, dass es einen Hirten gibt, der so lange sucht, bis er das verlorene Schaf gefunden hat. Diejenigen, die schon mal eine Weile lang verloren waren, wissen es noch ganz genau, wie gut es war, als Mama und Papa sie dann gefunden und wieder in die Arme geschlossen haben.

Der Hirte, der ein Schaf auf seinen Schultern nach Hause trägt, das ist ein Gottesbild, was ganz viel Geborgenheit vermittelt. Geborgenheit und das gesunde Selbstwertgefühl: Jemand fragt nach mir. Jemand sucht mich. Auf mich kommt es an. Man lässt mich nicht allein. Man lässt mich nicht zurück. Und nicht nur irgendjemand fragt nach mir, sondern Gott fragt nach mir, Gott sucht mich. Auf mich kommt es ihm an. Gott lässt mich nicht zurück. Er lässt mich nicht allein da draußen in der großen weiten Welt. Was für eine ermutigende, heilsame und gesunde Botschaft, auch für uns Erwachsene.

Mich hat bisher noch kein Kind gefragt: Ja, aber die 99!? Was ist mit denen? So ohne Hirte? Wie kann der Hirte das machen, 99 stehen lassen wegen einem? Irgendwie leuchtet es jedem Kind sofort ein, dass es wichtig ist, das eine verlorene Schäflein zu suchen. Die 99 anderen sind ja immerhin zusammen. Die können sich aneinander kuscheln. Das hilft gegen die Angst. Da ist das Leben schon viel leichter. Für Kinder ist es unmittelbar
einleuchtend, dass das eine verlorene Schaf gesucht wird, dass es in dem Moment Vorrang hat vor den andern 99.

Der Hirte im Gleichnis kennt seine Schafe, er merkt es, wenn eines fehlt. Er kennt auch ihre Zahl. Nicht so wie sein Kollege in dem Witz, der gefragt wird von einem Wanderer: Sagen Sie, wie viele Schafe haben Sie? Und der antwortet: Ach, ich weiß nicht so genau. Ich schlaf beim Schäfchenzählen immer ein.  Jeder Lehrer beim Klassenausflug muss zwischendurch seine Schützlinge zählen. Oder beim Zeltlager, wenn wir mit den Kindern eine Wanderung machen, da wird auch nachher durchgezählt. Und abends guckt jeder Zeltbetreuer ob alle in ihrem Feldbett liegen. Es darf nicht passieren, dass ein Kind verloren geht. Und es ist uns, Gott sei Dank, bisher auch noch nie passiert.

Wenn man es rein betriebswirtschaftlich betrachtet, macht das Verhalten des Hirten im Gleichnis nicht unbedingt Sinn: Eins von 100 Schafen fehlt. Wegen einem Prozent so einen Aufwand treiben?! Das steht in keinem Verhältnis zum Ertrag. Ein bisschen Schwund ist immer, das muss man halt von vornerein mit einpreisen. Wenn man bedenkt, wie hoch der Stundenlohn eines Hirten ist – oder was der Hirte in der Zeit, als er das eine Schaft gesucht hat, alles sonst hätte sinnvolles und nutzbringendes tun können: Zäune reparieren oder Schutzwälle aufrichten oder Wasserquellen erschließen oder Heilkräuter sammeln…! Anstatt stundenlang einem einzigen Schaf hinterherzurennen. Das rechnet sich doch nicht! Aber der Hirte im Gleichnis betrachtet seine Herde ganz offensichtlich nicht rein ökonomisch, als Produktionsmittel für Wolle, Milch und Fleisch. Sondern als Lebewesen, die ihn brauchen, zu denen er eine Beziehung hat, die ihm am Herzen liegen. Und genau das ist wiederum eine aufschlussreiche Information über Gott, die Jesus uns hier vermittelt: Gott betrachtet uns Menschen eben nicht unter der Perspektive der Nützlichkeit. Die Schafe seiner Weide, die liegen ihm einfach am Herzen, zu denen hat er eine Beziehung, die sind ihm wichtig und für die geht er meilenweit.

Kinder mögen ja Angst haben vor dem Verlorengehen. Aber wie ist das mit Erwachsenen? Wer sind denn da die Verlorenen? Wer ist damit gemeint? Man hört es ja seit einiger Zeit öfter, dass es durch Corona eine „verlorene Generation“ gibt. Damit sind besonders die älteren Teenager gemeint, denen der Weg ins erwachsene Leben durch die pandemiebedingten Einschränkungen sehr schwer gemacht wird. Manche geraten dadurch in eine Krise, die sich mitunter heftig auf ihr emotionales, soziales und mentales Wohlbefinden auswirkt. So hört man es immer wieder aus berufenem Mund. - Eine verlorene Generation … - Ich will es jetzt nicht weiter diskutieren, wie sehr diese Einschätzung zutrifft. Das interessante daran finde ich die Definition von Verlorenheit mit einer emotionalen, sozialen und mentalen Komponente. Man kann verloren sein in düsteren Gefühlen, man kann verloren sein, weil man sich abgeschnitten fühlt von sozialen Kontakten, von einem normalen und guten Miteinander. Oder weil man in schweren Gedanken kreist, ohne Ausweg und ohne Antwort: Was ist der Sinn meines Lebens? Wofür bin ich denn gut auf dieser Welt? Was für einen Unterschied macht denn meine Existenz? Für wen oder was bin ich wichtig? Merkt es überhaupt jemand, wenn ich nicht mehr da bin? – Oh ja, auch wir Erwachsene können verloren gehen in solch düsteren Gedanken und Fragen … Solche verlorenen Gefühle und Gedanken, so ein Erleben von Abgeschnitten- und Alleinsein, das kann einen in jeder Lebensphase beschleichen. Vor allem an Übergängen und in Krisen.

All das schwingt mit, wenn Jesus von den Verlorenen spricht. Man sieht das den Menschen nicht immer an, ihre Verlorenheit. Der Zöllner Zachäus zum Beispiel, der sah äußerlich ganz erfolgreich aus und wohlhabend. Trotzdem war er weitgehend ausgeschlossen aus der Gemeinschaft, er war nicht akzeptiert und angenommen. Er fühlte sich leise, still und heimlich verloren. Und Jesus hat das gesehen. Hat ihn gesehen auf dem Baum
und hat ihn aufgesucht in seinem Haus. Und dort bei seinem Besuch im Haus von Zachäus hat Jesus den Satz gesagt: Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.
In der Bibel gibt es noch eine etwas andere Definition von den Verlorenen. Und das sind dann gar nicht unbedingt die, die sich verloren fühlen. Gemeint sind die, die den Kontakt zu Gott verloren haben. Die sind nach biblischer Definition auch verloren gegangen. Verloren in sich selbst und in ihrer eigenen kleinen Welt. Ohne Beziehung zum größeren Ganzen, ohne Beziehung zur unsichtbaren Welt Gottes, ohne Verbindung zu Ursprung und Ziel ihres Lebens, ohne Beziehung zur himmlischen Familie, wo Gott wie ein guter Vater ist und die Menschen seine Kinder, wo Jesus der Hirte ist und wir seine Herde. Ohne diesen Kontakt sein, auch das ist Verlorenheit. Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Und das Ziel von dieser göttlichen Suchaktion ist die Freude. Freude bei den Gefundenen und Freude im Himmel. Und Freude in der Gemeinde. Denn die Gemeinschaft wird gestärkt, Trost und Hoffnung breiten sich aus. Menschen erfahren Liebe und Geborgenheit, Sinn und Ziel in ihrem Leben. Dank sei dem guten Hirten, Jesus Christus, der meilenweit geht für die Verlorenen, der alles gibt für seine Schafe bis hin zum eigenen Leben. Ja: Der gute Hirte gibt sogar sein Leben für die Schafe (Johannes 10,11). Amen.