Predigt zum Nachlesen
Predigt für den 5. Sonntag nach Ostern, Rogate - von Prädikantin Dorothea Brasch-Duffner
Predigttext: Jesus Sirach 35,16-22a | Das Gebet und Gottes Gericht | Luther 2017**)
16 Er hilft dem Armen ohne Ansehen der Person und erhört das Gebet des Unterdrückten. 17 Er verachtet das Flehen der Waisen nicht noch die Witwe, wenn sie ihre Klage erhebt. 18 Laufen ihr nicht die Tränen die Wangen hinunter, 19 und richtet sich ihr Schreien nicht gegen den, der die Tränen fließen lässt? 20 Wer Gott dient, den nimmt er mit Wohlgefallen an, und sein Gebet reicht bis in die Wolken. 21 Das Gebet eines Demütigen dringt durch die Wolken, doch bis es dort ist, bleibt er ohne Trost, und er lässt nicht nach, bis der Höchste sich seiner annimmt 22 und den Gerechten ihr Recht zuspricht und Gericht hält.
Selig ist jeder Mensch, der Gottes Wort hört, in seinem Herzen bewahrt und danach handelt. Amen
Liebe Gemeinde, liebe Brüder und Schwestern, verbunden in der Gnade und Liebe Gottes
«Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein:
Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen
und dann würde, was uns groß und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein!»
So singt Rainhard Mey in seinem sehnsuchtserfüllten Lied 1974. Fernweh und Hoffnung auf Weite und Unbeschwertheit klingen an in diesem gefühlvollen Lied, aber auch Wehmut und Schwere: Am Ende des Liedes hat das Flugzeug abgehoben, die Wolken erreicht und «schwebt der Sonne entgegen», der Beobachter aber bleibt am Boden und sinniert: «In den Pfützen schwimmt Benzin, schillernd wie ein Regenbogen. Wolken spiegeln sich darin. Ich wär’ gern mitgeflogen.»
Wie geht es dir, wie geht es ihnen beim Beten: Durchbrechen die Gedanken und Gebete die Wolkendecke wie das Flugzeug? Oder bleibt am Ende des Gebets das Gefühl von Wehmut und Schwere des regennassen Asphalts wie im Lied?
«Gebet durchbricht die Wolken», behaupte ich. Dies entspricht meiner tiefsten Überzeugung: Kein Gebet geht verloren, niemals beten wir umsonst, jedes unserer Gebete erreicht Gottes Ohr. «Gebet durchbricht die Wolken!»
Doch genauso kenne ich die Erfahrung, dass ich beim «Amen» am Ende eines Gebets innerlich nicht abhebe oder auf Wolke Sieben schwebe, sondern noch immer mit beiden Füssen auf der Erde stehe und sich die Situation noch kein bisschen leichter anfühlt.
Unser Bibeltext aus Jesus Sirach nimmt uns in die Schule des Gebets und gibt uns einige Hinweise dafür, wie Gebet gelingt, wie unsere Anliegen Wolken durchdringen (Vers 21).
Der eine oder andere fragt sich sicher: «Jesus Sirach, wer ist denn das? Wo in der Bibel ist dieses Buch zu finden?» Gut möglich, dass sie in ihrer persönlichen Bibel zu Hause nicht fündig werden. Viele Bibelausgaben enthalten die sogenannten Apokryphen oder Spätschriften des Alten Testaments nicht. Luther fand zwar, sie seien «nützlich zu lesen» und Zwingli hat sie bei seiner Bibelübersetzung mitübersetzt, doch späteren Bibelausgaben wurden sie weggelassen.
Jesus Sirach war ein Gelehrter, der sich in den Schriften unseres Alten Testamtes gut auskannte und ebenso vertraut war mit der griechischen Philosophie und ägyptischer Weisheitslehre. Er schrieb seine Weisheitsschrift um 190-180 vor Christus. Wahrscheinlich war er ein angesehener Lehrer in Jerusalem.
Mit seinen weisen Worten will uns Jesus Sirach eine Leiter anbieten: Eine Leiter zwischen Himmel und Erde – und Erde und Himmel. Bei Jakob steigen Engel auf dieser Leiter auf und nieder (1. Mose 28,12), bei Jesus Sirach sind es weisheitliche Gedanken, welche die Sprossen der Leiter bilden.
In unserem Abschnitt beginnt er mit Aussagen über Gottes Barmherzigkeit und Güte:
«Er hilft dem Armen ohne Ansehen der Person und erhört das Gebet des Unterdrückten. Er verachtet das Flehen der Waisen nicht noch die Witwe, wenn sie ihre Klage erhebt.» (Verse 16-17) Symbolisch gesprochen: Gott steigt auf der Leiter vom Himmel herab und zeigt seine Hilfe und Aufmerksamkeit gerade denen, die im Ansehen der Welt zuunterst angesiedelt sind: Arme, Waisen und Witwen. Zum einen ist dies tröstlicher Zuspruch für alle jene, die selbst arm, unterdrückt und einsam sind und deren Gebete von Klagen erfüllt sind: «Gott ist gerade dir nahe!» Zum anderen ist es wohl auch eine Mahnung an die Gebildeten und besser Gestellten unter den Zuhörern von Jesus Sirach: «Denkt nicht, dass ihr vor Gott besser dasteht, wenn ihr reich, mächtig und in intakten Familienverhältnissen lebt. Gott wendet sich den Bedürftigen vor allen anderen zu mit seinem Erbarmen, seiner Gnade und seinem Mitgefühl. Deshalb macht es ebenso und zeigt Mitgefühl und Verständnis für ihre Nöte!»
«Laufen ihr nicht die Tränen die Wangen hinunter, und richtet sich ihr Schreien nicht gegen den, der die Tränen fließen lässt?» (Verse 18-19) Sehr anschaulich schildert Jesus Sirach die Nöte der Witwe: Er lädt uns ein, die Tränen wahrzunehmen, in Gedanken und Gesten ihre Trauer mitzuerleben, ihre Not, ihr Schreien, ihre Fragen und Klagen mitzutragen.
Der Weg eines weisen, gottgefälligen Menschen führt demnach zunächst nach unten, zu den Menschen, die in ihrer Trauer und Not am Boden sind, ohne Perspektive, Hoffnung und Kraft.
Dort unten, ganz geerdet und bescheiden, erhält der Mensch, der sich der Weisheit öffnet, die erste Anweisung, die den Weg nach oben eröffnet: «Wer Gott dient, den nimmt er mit Wohlgefallen an, und sein Gebet reicht bis in die Wolken.» (Vers 20) Die seelsorgerliche und diakonische Nähe zu Bedürftigen, Hilflosen und Schwachen, der Dienst am Mitmenschen, wird sogleich verbunden mit dem Dienst gegenüber Gott. Im selben Atemzug, in welchem Solidarität mit den Trauernden angemahnt wird, spricht Jesus Sirach davon, dass Gott jene mit Wohlgefallen annimmt, die ihm dienen. Das Wort von Jesus Christus klingt hier an: «Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.» (Matthäus 25,40) Nächstenliebe und Gottesliebe hängen eng zusammen, bedingen, befruchten, begleiten einander. Nächstenliebe ohne Gottesliebe wäre auf die Dauer ein Kampf und Krampf, Gottesliebe ohne Nächstenliebe unglaubwürdig und leer.
Die Zuwendung zum Hilfebedürftigen aber wird von Jesus Sirach, wie auch von Jesus Christus als Gottesdienst gewürdigt. «…und sein Gebet reicht bis in die Wolken!»
Wer ganz unten bei den Ärmsten ist, dessen Gebete steigen auf zu Gott, bis zu den Wolken.
Doch Jesus Sirach genügt dies noch nicht: Das Gebet soll die Wolken durchdringen, die Nebel und das Düstere sollen sich lichten, er will die Sonne sehen, Hoffnung, neues Leben, Gottes Kraft und Licht.
Um diese Stufen zu erklimmen, benötigt der Weise weitere Einsichten: «Das Gebet eines Demütigen dringt durch die Wolken, doch bis es dort ist, bleibt er ohne Trost, und er lässt nicht nach, bis der Höchste sich seiner annimmt und den Gerechten ihr Recht zuspricht und Gericht hält.» (Verse 21-22a)
Demut, Ausdauer und Gerechtigkeitssinn werden hier angesprochen. Es könnte eine geistliche Übung für die kommenden Tage sein, dass wir uns fragen: Sind meine Gebete von Demut, Ausdauer und Gerechtigkeitssinn geprägt?
Demut: Habe ich den Eindruck, ich könne und müsse Gott vorschreiben, wie und wann er meine Gebete zu erhören hat oder prägt der Gebetsruf von Jesus im Garten Gethsemane mein Beten: «Nicht mein, sondern dein Wille geschehe!» (Lukas 22,42b) Wir werden im Unser Vater diese Bitte ganz ähnlich aussprechen: «Dein Wille geschehe!»
Ausdauer: «Er lässt nicht nach, bis der Höchste sich seiner annimmt.» Wir leben in einer Zeit, in der wir gewohnt sind, unserer Bedürfnisse im Handumdrehen oder per Knopfdruck befriedigen zu können. Wir sind selten weiter als eine Armlänge von einer online-Bestellung weg. Wie steht es mit unserer Geduld und Ausdauer, unserem Durchhaltewillen und unserer Hartnäckigkeit? Offenbar mutet Gott uns zu, dass wir unsere Bitten und Gebete beharrlich und immer neu an ihn richten. Unsere Beziehung zu Gott wird mit jedem Gebet vertieft, unser Vertrauen mit jeder Bitte herausgefordert, unser Flehen mit jeder Klage ernster und ehrlicher. Wir können nur gewinnen, auch wenn unser Gebet nicht sofort erfüllt wird.
Gerechtigkeitssinn: Gott ist ein gerechter Gott. Wenn in unseren Gedanken und Gebeten, unseren Absichten und Beweggründen noch Ungerechtigkeit, Neid und Hass mitschwingt, wird Gott uns läutern, erneuern und prüfen wollen. Gott wird sich von uns zu keiner Ungerechtigkeit bewegen lassen, daher stellt jedes Gebet und jede Frage an die Adresse von Gott mir die Frage: Ist deine Absicht ehrlich und gut, sind deine Ziele göttlich und himmlisch, ist dein Gebet selbstlos und aufbauend.
Ich habe zu Beginn von einer Schule des Gebets gesprochen, in welche Jesus Sirach uns einführt. Er führt uns zunächst ganz hinunter in die Nöte und Ängste unserer Mitmenschen und auch in die Dunkelheit unserer eigenen Kämpfe. Dort dürfen wir Gottes Zusage hören: Er hört unser Flehen und sieht unsere Tränen. Wir werden ermutigt, unsere Gebete «zu den Wolken» aufsteigen zu lassen.
Tun wir dies mit Demut, Ausdauer und Gerechtigkeitssinn, werden unsere Gebete die Wolken durchdringen. Und wir dürfen etwas von der Freiheit und Unbeschwertheit erleben, die Rainhard Mey besingt: «Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein:
Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen.»
Amen