Predigt zum Nachlesen
Predigt am 13. So. n. Trinitatis – 29.08.2021 – Lukas 10, 25-37
von Prädikant Stephan Müller
Liebe Gemeinde,
stellen Sie sich vor: Sie begegnen Jesus. Sie können ihn sehen, mit ihm sprechen, ihn alles fragen, was Sie wollen. Welche Frage würden Sie ihm stellen? Vielleicht: Wie kann es funktionieren, dass Geld und Güter gerecht verteilt werden? Wann hören Krieg und Terror endlich auf? Wie schaffen wir es, im Einklang mit der Natur zu leben? Oder: Was soll ich tun, damit ich möglichst gesund alt werde? Wie gelingt es, eine glückliche Beziehung zu führen? Was kann ich meinen Kindern mitgeben, damit sie ein gutes Leben haben? Sicher sind es ganz unterschiedliche Fragen, je nachdem, wo Sie gerade stehen und was Sie beschäftigt.
Der heutige Predigttext aus dem Lukas-Evangelium erzählt von einem Menschen, der das Glück hat, Jesus zu begegnen. Er stellt ihm eine Frage, die ihm auf der Seele zu brennen scheint. Es sind die Verse 25 bis 37 aus dem 10. Kapitel des Evangeliums nach Lukas; ich lese sie nachfolgend abschnittsweise.
Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?
„Was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“
Ganz selbstverständlich geht der Fragende davon aus, dass es solches Leben gibt. Und dass er etwas tun kann, dass er etwas dazu beitragen kann, dieses Leben zu bekommen. Eine erstaunliche Frage. Eine, die ich spontan nicht gestellt hätte. Hier fragt ein Schriftgelehrter fragt – einer, der die Antwort eigentlich kennen müsste. Will er testen, was Jesus weiß? Stellt er die Frage ganz distanziert aus allgemeinem Interesse? Oder bewegt sie ihn persönlich? Ist er unsicher, ob die Antwort, die er geben würde, die richtige ist? Der Schriftgelehrte legt seine Motive nicht offen. Aber er steht auf. Er steht auf und fragt, wie er ewiges Leben, Leben, das nicht durch den Tod begrenzt ist, bekommen kann. Leben ohne Ende, Leben in der Nähe zu Gott. Leben, ungefährdet, geborgen und heil.
Und auf einmal merke ich: Der Schriftgelehrte ist mit seiner Frage gar nicht so weit weg von meinen Fragen heute, von meiner Sehnsucht nach Frieden und Glück, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, Sicherheit und Zukunft. „Was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“
Jesus antwortet zunächst nicht. Er stellt eine Gegenfrage.
Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? Er antwortete und sprach: „Du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet, tu das, so wirst du leben.
„Tu das, so wirst du leben.“ Gott lieben, mit allem, was uns ausmacht, und unseren Nächsten wie uns selbst. Das ist der Weg zum Leben. Da sind sich Jesus und der Schriftgelehrte einig. So steht es in der Tora, in den Büchern Mose, im guten Gesetz Gottes. Es ist ein großes Wort. Gott lieben, die Menschen um mich herum lieben, mich selbst lieben. Oft schaffe ich das nicht. Ich vergesse die Bindung an Gott. Ich ärgere mich über die anderen. Ich werde mir selber gleichgültig. Und mir fehlen Ideen, wie miteinander, wie mit Gott umgehen. Bei Jesus klingt es so, wie wenn das mit der Liebe zu Gott und zum Nächsten ganz einfach wäre. „Tu das, so wirst du leben.“
Der Schriftgelehrte hört es. Und egal, mit welcher Absicht er die erste Frage gestellt hat, jetzt wird es ihm ernst. Es geht um vieles, eigentlich um alles. Um das ewige Leben. Er möchte wissen, wie er diesem Gebot gerecht werden, es verwirklichen kann. Deshalb fragt er Jesus noch einmal, ganz konkret.
Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinab zog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme. Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?
Jesus beantwortet die Frage des Schriftgelehrten nicht direkt. Er erzählt eine Geschichte. Und stellt seinerseits am Ende eine Frage. „Wer ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?“
Die Antwort liegt für den Schriftgelehrten auf der Hand. Wieder sind er und Jesus sich einig.
Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!
„So geh hin und tu desgleichen.“ Zum zweiten Mal hört der Schriftgelehrte die Aufforderung Jesu zum Tun. Er hört Jesu Zutrauen, dass es ihm gelingen könnte: „Geh hin und tu desgleichen!“
Der Mensch, der hier zum Vorbild wird, ist ein Samariter. Er gehört einer Religionsgemeinschaft an, die für sich beanspruchte, das wahre Israel zu sein, ebenso wie die jüdischen Menschen. Deshalb mochte man sie damals nicht. Aber auch für sie galten die Regeln der Tora. Auch ihnen war das Gebot, Gott zu lieben und seinen Nächsten zu lieben, bekannt. Dem Priester und dem Levit, dem Tempeldiener, denen hätte man ja eigentlich zugetraut, dass sie das Wort Gottes kennen und wissen, wie es zu befolgen ist. Doch von jedem von ihnen wird erzählt: „Und als er ihn sah, ging er vorüber.“ Was ist es wohl, das sie so handeln lässt?
Sind sie in Eile? Oder möchten sie mit dem Verletzten nicht in Berührung kommen? Haben sie Angst, etwas falsch zu machen? Oder ist ihnen der Überfallene einfach nur egal? Sie schauen hin, aber sie lassen sich nicht durch den am Boden Liegenden von ihrem Weg abbringen. Sie gehen weiter. Vom Samariter dagegen heißt es: „Als er ihn sah, jammerte ihn.“
Dr. Marlene Crüsemann, eine deutsche Theologin, übersetzt: „Er sah ihn und es ging ihm durch und durch.“ Der Samariter lässt das Elend des Überfallenen an sich heran, ganz nah. Er wehrt es nicht ab. Er sieht hin, und er hilft. In aller Ausführlichkeit schildert Jesus, was der Samariter tut. Er wäscht die Wunden aus und verbindet sie. Er bringt den Verletzten in eine Herberge und bleibt eine ganze Nacht bei ihm. Und am nächsten Tag gibt er dem Wirt einen Geldbetrag, der einem Zweitageslohn eines Arbeiters entspricht, und bittet ihn, für den Überfallenen zu sorgen bis er wiederkommt.
Er füllt das große Wort, „mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele, von allen Kräften und mit ganzem Gemüt“ zu lieben, mit Leben. Der Samariter hilft mit dem, was er hat und was er ist. Und wird so zum Nächsten dessen, der unter die Räuber gefallen ist. Das ist die Formulierung, die Jesus verwendet. Er macht damit deutlich: Die Rollen sind nicht festgeschrieben und starr. Nächster sein, das heißt derjenige sein, der Unterstützung und Hilfe braucht und annimmt. Nächster sein heißt aber auch, derjenige sein, der Verantwortung übernimmt und tut, was dran ist, um Not zu lindern.
Beides gehört zum Leben von uns Menschen, ob wir jung sind oder alt: Bedürftig sein und Bedürfnisse stillen können. Sich für andere einsetzen und sich auf die Hilfe anderer verlassen. Liebe erfahren, indem wir sie nehmen und geben. Es wird immer auch an uns sein, hier unseren Platz zu finden und das Gebot der Gottesliebe, Nächstenliebe und Eigenliebe so zu leben, es so umzusetzen, wie es die Situation gerade erfordert und wie es uns möglich ist. „Geh hin und tu desgleichen!“ Dazu ein keines Beispiel:
Madame Lipps, eine Frau aus Calais in Frankreich, hat etwas davon verstanden. Sie lebt am Rand der Stadt. Im Wald in der Nähe ihres Hauses ist ein Lager, in dem illegale Flüchtlinge campieren. Menschen aus Afrika, vor allem Männer leben dort notdürftig unter Planen ohne Wasser und Strom. Täglich versuchen sie, per Anhalter über den Ärmelkanal nach England zu kommen, um dort ein besseres Leben führen zu können. Die meisten sind allein unterwegs, ihre Familie und Freunde sind in der Heimat. Wenige Habseligkeiten sind ihnen geblieben. Die einzige Verbindung nach Hause ist das Handy. Madame Lipps öffnet jeden Morgen ihre Garage und nimmt bis zu 150 Handys entgegen, um sie in ihrem Haus aufzuladen. Sogar die Heizung des Terrariums ihrer Schildkröte wird ausgesteckt, damit die Steckdose für ein Ladegerät frei ist. Nicht jeder findet ihr Engagement gut. Manche Nachbarn fühlen sich durch die Flüchtlinge vor Madame Lipps’s Haus gestört. Viele wollen das Elend nicht sehen. Sie macht trotzdem weiter. Lädt Handys auf, backt Kuchen, verteilt Decken, besucht die Menschen im Flüchtlingslager, gibt ihnen ein gutes Wort mit auf den Weg, schaut hin. Und erzählt mit Tränen in den Augen: „Einmal hat mir einer der Männer eine Nachricht hinterlassen, darauf stand: Egal wo ich hingehe, ich bete für Sie und Ihre Familie.“
„Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“ Diese Frage des Schriftgelehrten ist der Anfang des Gesprächs mit Jesus. Und am Ende wird deutlich: Die Frage nach ewigem Leben, nach Leben in Verbundenheit mit Gott, nach Heilung, sie wird nicht im Jenseits beantwortet, sondern im Diesseits. Dort, wo Menschen einander begegnen, wo sie sich unterbrechen und anrühren lassen von der Not des anderen, wo sie hinschauen und sich aufeinander einlassen, wo sie Vorurteile und Berührungsängste auf die Seite legen, wo sie es wagen, sich ganz hineinzubegeben, dort beginnt Leben, Leben in Fülle. Schon heute.
Und dort wächst Liebe. Liebe, die von Offenheit und Wechselseitigkeit lebt. Liebe, die sich aus der unendlichen Liebe Gottes speist. Liebe – mitten unter uns.
Erinnern Sie sich noch an die Frage von vorhin, die Sie Jesus stellen würden? Was wäre, wenn wir, wie der Schriftgelehrte, nicht nachlassen, Jesus zu fragen, auch dann, wenn wir die Antwort zu kennen meinen?
Was wäre, wenn Jesus Ihre und meine Fragen hört? Was wäre, wenn er auch uns die Geschichte vom Barmherzigen Samariter erzählt, wenn sein Wort und sein Zutrauen auch für Sie und mich gilt: „Geh hin und tu desgleichen?“ Was wäre, wenn wir uns darauf einlassen und es einfach versuchen, so gut wir es eben können? Dann ist es ein Stück Himmel jetzt schon auf Erden. Amen.