Predigt zum Nachlesen
Predigt am Volkstrauertag, 14 November 2021 in Hugsweier und Langenwinkel von Pfarrer Axel Malter
Predigttext: Römer 8,18-25
Der Apostel Paulus schreibt:
18 Ich bin überzeugt, dass die Leiden dieser Zeit nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll.
19 Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden.
20 Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit - ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat -, doch auf Hoffnung;
21 denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.
22 Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet.
23 Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes.
24 Denn wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht?
25 Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.
Predigt:
Liebe Gemeinde, die Leiden dieser Zeit: Paulus spricht sie an. – Und schon das allein tut mir gut. Endlich bringt es jemand zu Sprache und räumt den Leiden auch unserer Zeit damit einen Platz ein. – Es geht jetzt also endlich einmal nicht darum, dass ich funktioniere. Oder darum, dass es wenigstens so aussieht als ob. Es geht jetzt nicht darum, dass alles läuft wie am Schnürchen. Oder darum, dass wenigstens die Fassade gewahrt bleibt. Es geht jetzt nicht wie sonst so oft darum, dass alles perfekt organisiert ist: in Haus und Garten, auf dem Feld, im Büro, auf dem Bankkonto, in der Schule, bei der Arbeit, in der Kirchengemeinde.
Und es geht jetzt auch nicht darum, dass Pannen und Missgeschicke zumindest nicht auffallen dürfen oder dass unser Leiden nicht nach außen dringt. – Es geht auch nicht um verschleiernde oder beschönigende Worte, wie ich sie derzeit oft in der Kirche höre. Nein, Paulus spricht sie an, die Leiden seiner Zeit. Und es ist erstaunlich, dass er damit auch die Leiden unserer Zeit berührt. Er deckt auf, was wir in der Regel zu verbergen suchen vor den Blicken anderer, und vielleicht auch vor uns selber. Er spricht vom ängstlichen Harren der Kreatur, von Vergänglichkeit, von Unterwerfung und von Knechtschaft, von Angst und von Seufzen und von Sehnsucht nach Erlösung und nach kindlicher Geborgenheit.
Ich nehme an, liebe Gemeinde, auch in Euch lösen diese Worte einen gewissen Widerhall aus. – Denn es ist ja was dran, wenn wir sagen: Jeder trägt sein Päckchen mit sich herum. Sein Päckchen an Sorgen und an Leid. – Fest zugeschnürt haben wir dieses Päckchen in der Regel. – Aber Paulus löst die Schnur und packt sie aus: die Leiden dieser Zeit, das ängstliche Harren der Kreatur.
Und dazu gehört eben auch das ängstliche Harren eines jedes einzelnen Menschen. Etwa die Angst des Krebspatienten nach der Chemo davor, dass die Krankheit von neuem aufbricht. Das ängstliche Harren jedes Mal vor der Kontrolluntersuchung. – Oder das ängstliche Harren des Schlaganfallpatienten und seiner Angehörigen vor einem womöglich zweiten oder gar dritten Schlaganfall, der alles noch schlimmer macht. – Das ängstliche Harren der Schülerin auf die Rückgabe der völlig missglückten Klassenarbeit. Oder das ängstliche Harren des Studenten auf seine Examensprüfungen. Das ängstliche Harren vor den Mühen und Krankheiten im Alter, vor dem Anfang vom Ende. – Das ängstliche Harren der Eltern, die sich fragen, was aus ihren Kindern werden mag, wenn’s in der Schule nicht so läuft, wie erhofft. Wenn die Kinder nicht so geraten, wie erwartet. Wenn uns nur ängstliches Harren bleibt, liebe Gemeinde, dann sind wir hilflos, fühlen wir uns ausgeliefert, dann können wir nicht agieren und merken: Wir sind einfach absolut nicht die Herren der Lage.
Aber Paulus spricht nicht nur vom vielfältigen Leid der Menschen. Er meint auch Tiere und Pflanzen und alles, was Gott erschaffen hat, wenn er vom ängstlichen Harren der Kreatur spricht. – Und dieses ängstliche Harren der ganzen Schöpfung ist heute wohl noch mehr mit Händen zu greifen als zu Paulus‘ Zeiten. Wenn wir an die vielfache Bedrohung von Gottes
Schöpfung denken: an Regenwälder, die großflächig abgeholzt werden mit allen Auswirkungen auf die CO2-Belastung in unserer Atmosphäre. Wenn wir an den drohenden Klimakollaps denken. Oder wenn wir an die immer länger werdenden Roten Listen der vom Aussterben bedrohten Tier- und Pflanzenarten denken, an die Überfischung der Meere, an die Massentierhaltung und an das Massenschlachten in den Schlachtfabriken, das die Würde alles Lebens mit Füßen tritt. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen und irgendwo in dieser Liste kämen natürlich auch die Stichworte „Corona“ und „Pandemie“ vor. - Ja, die ganze Schöpfung, die Kreatur harrt ängstlich der Dinge, die da kommen.
Unter die Leiden dieser Zeit zählt Paulus auch die Vergänglichkeit, die allem Geschaffenen gemeinsam ist. Freilich, nur uns Menschen ist die eigene Vergänglichkeit bewusst. Und so leiden wir doppelt darunter. Gerade jetzt im Herbst, wo die Tage kürzer werden und die Nächte immer länger, wo die letzten Blumen im Garten erfrieren und die letzten Blätter von Bäumen und Sträuchern fallen, gerade jetzt steht es uns deutlicher als sonst vor Augen: Alles Geschaffene ist vergänglich. Alles Lebende ist sterblich. Auch wir sind vergänglich und das gibt uns zu denken.
An dieser Tatsache, dass alles Geschaffene der Vergänglichkeit unterworfen ist, kommen wir nicht vorbei. Alles Geschaffene, auch jeder von uns und alles, was wir uns aufgebaut haben, ist der Vergänglichkeit unterworfen. Paulus spricht von der Knechtschaft der Vergänglichkeit.
Aber ich befürchte, es ist nicht nur unsere Vergänglichkeit, durch die wir uns geknechtet fühlen und uns wie Sklaven vorkommen. Auch wo wir uns gerade nicht von der Vergänglichkeit geknechtet fühlen, sind wir doch oft gehetzt und getrieben und fühlen uns alles andere als frei. Die Uhr gibt uns den Takt vor, in dem wir zu leben und zu arbeiten haben: der Wecker am Morgen, das Smartphone oder die Armbanduhr am Tag, die Stechuhr bei der Arbeit oder der Arbeitstakt am Fließband. Andere, so empfinden wir es, verfügen über unsere Zeit: die Lehrerin, der Vorgesetzte, die Kundschaft, die Familie, das Telefon.
„Knechtschaft der Vergänglichkeit“, sagt Paulus. Und immer wieder fühlen wir uns tatsächlich wie Gefangene. Gefangen in den Grenzen unseres Könnens und unserer Begabungen, gefangen in den Grenzen unserer geistigen Möglichkeiten, eingesperrt in den Grenzen unserer Geduld. Gefangen manchmal in den eigenen Launen und manchmal den Launen anderer ausgesetzt. Gefangen fühlen wir uns in den Grenzen unserer körperlichen Leistungsfähigkeit, vielleicht in einer Krankheit. Gefangen sind wir auch in den schlechten Erfahrungen, die uns bewusst oder unbewusst geprägt haben in unserem Fühlen, in unserem Denken und Handeln. Gefangen in allerlei Sorgen und Nöten, aus denen wir einfach keinen Ausweg finden. – Wie gern wären wir frei von alledem!
Paulus spricht es an: Das Seufzen in uns selbst, unsere Sehnsucht nach Erlösung und nach kindlicher Geborgenheit. – Ja, es sind oft nur „Seufzer in uns selbst“, stumme Seufzer, die
keiner hört. – Und doch tragen wir sie in uns: die Sehnsucht nach Erlösung, nach Befreiung von all den Leiden dieser Zeit und aller Knechtschaft. Die Sehnsucht, dass es uns abgenommen wird, dieses Päckchen, das wir alle mit uns herumtragen. – Oder ist es viel mehr ein großes und schweres Paket? Wer von Euch gerne wandert, kennt sicher das Gefühl, wenn man bei einer Wanderung den ganzen Tag mit schwerem Gepäck unterwegs ist. – Was für ein wunderbares Gefühl, wenn man dann abends am Ziel vor der Hütte den schweren Rucksack abnimmt und die schweren Wanderschuhe auszieht. – Wie leicht man sich dann auf einmal vorkommt. Das ist fast als
ob man schwebt. – Ein Vorgeschmack auf diese große Erleichterung am Abend ist es schon, wenn man zwischendurch mal Rast macht und dazu den Rucksack abnimmt. –
Ach, wie gut es doch wäre, wenn einer käme und uns von dem Paket befreit, in dem wir die Lasten dieser Zeit mit uns herumschleppen. – Wie schön wäre es, sich so leicht und frei zu fühlen, wie ein Kind, das sich bergen darf in der Fürsorge, in der Zuwendung und in der Liebe seiner Eltern, frei von Sorgen und Nöten. Paulus spricht diese Sehnsucht in uns an. Und er macht uns Mut, er gibt uns Hoffnung in den Leiden dieser Zeit: Euer Sehnen nach Erlösung Eures Leibes, nach kindlicher Geborgenheit, nach Rettung aus Sorge und Not, Euer Sehnen nach Befreiung aus der elenden Knechtschaft der Vergänglichkeit, diese Sehnsucht läuft nicht ins Leere. Denn es ist keine Sehnsucht ohne Hoffnung auf Erfüllung. – Nein, sondern Eure Sehnsucht soll erfüllt werden!
Wir sind ja als Christen eine GmbH, wusstet Ihr das: eine Gemeinschaft mit begründeter Hoffnung. – Und Paulus sagt uns auch, worin der Grund für unsere Hoffnung liegt. Durch Jesus Christus sind wir Gottes Kinder. Wir haben einen Vater im Himmel. – In welche Nöte also auch immer wir geraten, welches Leid auch immer uns betrifft: nie sind wir hilflos ausgeliefert. Denn immer bleibt er der Herr der Lage: unser Vater im Himmel. Wo uns weder unsere leibliche Mutter noch unser irdischer Vater noch sonst jemand helfen kann, da haben wir doch immer noch unseren himmlischen Vater! Zu seiner Liebe, zu seiner Fürsorge und Zuwendung dürfen wir unsere Zuflucht nehmen. Arno Pötzsch sagt in einem seiner Lieder: Du kannst nie tiefer fallen als nur in Gottes Hand, die er zum Heil uns allen barmherzig ausgespannt. (EG 533,1) In diesem Vertrauen lasst uns leben. Wir sind nicht einem blindwütend tobenden Schicksal hilflos ausgeliefert. Und sollte es manchmal noch so sehr danach aussehen. – Wir haben einen Vater im Himmel: Bei ihm dürfen wir uns bergen. Hier dürfen wir alle Sorgen und Nöte abladen. So wie es Kinder tun, die sich ganz auf die Fürsorge ihrer Eltern verlassen. – Alle Eure Sorgen werft auf ihn, denn er sorgt für Euch. (1. Petrus 5,7). Die Leiden dieser Zeit: Klagt sie Eurem himmlischen Vater und vertraut Euch seiner Fürsorge an. – Das ist wie Rast machen und den schweren Rucksack erst mal absetzen dürfen. – Rast machen und Abladen beim himmlischen Vater. Das macht die Leiden dieser Zeit erträglicher. – Und es vermittelt uns einen Eindruck davon, wie herrlich es sein wird, wenn wir am Ziel sein und den Rucksack endgültig abwerfen werden. –
Paulus weiß wohl, dass die Rast beim himmlischen Vater noch nicht die Erlösung ist, nach der wir uns sehnen: „Wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung.“ , sagt er. Unsere endgültige Befreiung aus den Leiden dieser Zeit ist zwar schon beschlossen! Wir dürfen uns deshalb auch hier und jetzt schon als Kinder Gottes betrachten. – Aber die Erfüllung, die endgültige Befreiung aus aller Knechtschaft, dass wir als Kinder Gottes offenbar werden – und dass die ganze Schöpfung an der großen Befreiung der Kinder Gottes Anteil bekommt, das steht noch aus. –
Und doch verändert diese Hoffnung schon jetzt und hier unseren Horizont. So wie die aufgehende Sonne vom Horizont her schon Licht verbreitet und leuchtet noch bevor sie wirklich sichtbar wird. So bringt die begründete Hoffnung auf unsere endgültige Erlösung - von allem Bösen und von allem Leiden - schon Licht in unser Jetzt und Hier. – Vielleicht ist es dieses Licht vom Horizont her, das uns so viel bedeutet, wenn wir beim Segen am Ende jedes Gottesdienstes hören: „Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir …“
Wenn Paulus von der endgültigen Erlösung der Kinder Gottes schreibt, liebe Gemeinde, dann klingt das total begeistert, ja euphorisch: „Ich bin überzeugt“, schreibt er, „dass die Leiden dieser Zeit überhaupt nicht mehr ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll.“ – Von der „herrlichen Freiheit der Kinder Gottes“ schwärmt er uns vor. - Von unserer endgültigen Erlösung können wir offenbar gar nicht groß genug denken! - Herrlichkeit soll an uns offenbart werden. Es ist also nicht einfach nur so, dass Leiden und Not, Knechtschaft und Gefangenheit verschwinden und ersetzt werden durch eine stetige sorg- und leidfreie Existenz. Die wäre ja dann vielleicht mit der Zeit in der Ewigkeit auch wieder monoton und langweilig. – Nein, da kommt eine nie gekannte Herrlichkeit auf uns zu, die noch weit mehr ist als die Abwesenheit von Leid. An uns, den Kindern Gottes, soll diese Herrlichkeit offenbart werden. Für mich klingt das nach Freude und Feiern, nach Lachen und Tanzen, nach Liebe und nach Wärme. - Aber es werden wohl meine kühnsten Erwartungen
noch übertroffen werden, wenn die künftige Herrlichkeit die Leiden dieser Zeit geradezu als Kleinigkeiten erscheinen lässt, die dann überhaupt nicht mehr ins Gewicht fallen.
Liebe Gemeinde, lasst uns das Licht am Horizont fest in den Blick nehmen, damit es die Finsternis in uns schon hier und jetzt etwas heller macht: Wir warten dein, o Gottes Sohn …“
Lasst uns unterwegs durch diese Zeit möglichst oft Rast machen bei unserem himmlischen Vater, den Packen mit unseren irdischen Leiden und Knechtschaften vor ihm abwerfen, uns erleichtern, um eine Vorahnung davon zu bekommen wie es dereinst sein wird. Und um aus seinem Zuspruch neue Kraft zu schöpfen für die nächste Etappe auf unserem Lebensweg. – Dein Wort sei unseres Fußes Leuchte und ein Licht auf unserem Weg.
Vielleicht gelingt es uns so, dass schon hier und jetzt aus unserem ängstlichen Harren ein Warten in Geduld wird. Amen.