Predigt zum Nachlesen

Predigt für den 3. Sonntag nach Ostern, Jubilate  - von Prädikantin Dorothea Brasch-Duffner

Woran glaubst du?

Liebe Gemeinde,

ich erzähle Ihnen zuerst von einer Umfrage. Es ist Samstagvormittag. Gerade hat es elf geschlagen. Leute gehen über den Platz. Hin und her, kreuz und quer, von einer Seite zur andern, vom Rathaus zur Stadthalle und wieder zurück, von der Kirche zur Apotheke. Von oben betrachtet wird aus ihren Wegen ein Muster. Eine Frau im roten Anorak bleibt am Blumenstand stehen, kauft einen Bund gelbe Osterglocken. Ein Junge mit grauem Kapuzenpulli kurvt mit dem Rad um den Brunnen. Der Käseverkäufer steht in blauer Schürze vor seinem Wagen. Eine braun bemantelte Dame zieht ihren Rollwagen durchs Tor.

Pauline steht mittendrin. Vor ihr plätschert der Brunnen. Auf der Säule steht eine römische Götterfigur aus Stein, Kybele. Irgendwann gab es offenbar Menschen, die haben diese Figur verehrt. Pauline weiß gar nicht genau, was für eine Göttin diese Kybele war. Sie fragt sich eher: Woran glauben die Leute denn jetzt?

Probehalber fragt sie zuerst die Figur auf dem Brunnen: »Woran glaubst du?« Kybele verzieht keine Miene, die steinernen Augen schauen ins Leere. Da dreht Pauline sich um, sieht all die Menschen kreuz und quer gehen und stehen. Sie fasst sich ein Herz, geht geradewegs rüber zum Blumenstand, die Frau im roten Anorak hat die Osterglocken gerade im Korb verstaut, und Pauline sagt: »Entschuldigung, darf ich was fragen? Ich mache eine Umfrage. Woran glauben Sie?« Die Frau stellt ihren Korb hin. »Du fragst ja Sachen … Du meinst: ob ich gläubig bin? Also ich bin jetzt nicht so die Kirchgängerin. Aber ich würde schon sagen, dass ich gläubig bin.« Sie macht eine Pause. »Ich glaube schon, dass es noch etwas gibt. Ich habe manchmal so ein Gefühl – wenn ich am Meer bin zum Beispiel. Wie wenn ich von etwas Großem umgeben wäre.« Sie denkt wieder einen Augenblick nach. »Und ich glaube auch, dass alles, was passiert, einen Sinn hat … auch wenn es nicht immer so aussieht. Ja, so würde ich sagen!« »Danke!« sagt Pauline, »schönen Tag noch!«, und geht über den Platz.

Der Junge im grauen Pulli fährt mit seinem Rad fast in sie rein. »Aufpassen!« ruft sie. »Tschuldigung«, murmelt er und will weiterfahren. Aber Pauline ruft: »Stopp! Erst musst du noch bei meiner Umfrage mitmachen!«
»Umfrage?« »Ja! Woran glaubst du?« Der Junge verzieht das Gesicht: »Ach, keine Ahnung … ich denke, man muss an sich selbst glauben.« »Glaubst du an Gott?« fragt Pauline. »Ach so meinst du das«, sagt der Junge, »also ich weiß nicht, jetzt nicht in dem Sinne, da ist ein alter Mann im Himmel mit Bart … Aber doch, ich denke, dass es Gott gibt. Ich bin mir nur nicht so sicher, warum er Corona erlaubt hat, das verstehe ich nicht. Nächsten Sonntag hab ich Konfirmation«, sagt er und schaut zur Kirche hinüber. »Dann feier schön!« sagt Pauline und geht weiter zum Käsestand.

»Machen Sie auch bei meiner Umfrage mit?« fragt sie den Käseverkäufer. »Klar, worum geht’s?« »Woran glauben Sie?« »Ich bin Moslem«, lacht der Käseverkäufer, »ich glaube an Gott und dass Mohammed sein Prophet ist. Ich bin nicht ganz so streng mit den Gebeten, wie ich sollte; aber das glaube ich«, sagt er und wischt sich die Hände an seiner Schürze ab.

Hinter Pauline steht die Dame mit ihrem Rollwagen. »Darf ich Sie auch gleich noch fragen?« fragt Pauline. »Woran glauben Sie?«  »Da stellst du eine große Frage«, sagt die Frau. »Aber wenn du mich schon fragst: Ich glaube an Gott. Weißt du, ich hatte es nicht immer so leicht in meinem Leben. Ohne den Glauben hätte ich manche Sachen nicht so gut aus-gehalten. Ich habe immer gebetet. Das hat mir geholfen. Und es ist immer noch so, obwohl ich jetzt im Alter manche Sachen ein bisschen anders sehe als früher.« »Ah«, sagt Pauline und merkt, dass sie eine Gänsehaut bekommen hat, »was sehen Sie denn jetzt anders?« »Mit der Auferstehung«, sagt die Frau, »das finde ich so eine Sache. Die Auferstehung ist mir so wichtig. Aber je älter ich werde, desto schwieriger finde ich es, mir darunter etwas Richtiges vorzustellen. Der Tod ist schließlich der Tod.« Pauline schluckt und will nachfragen, da sagt die Frau: »Aber sag du doch mal! Woran glaubst du?«

So könnte es sein, wenn wir, ziemlich gegen alle Gewohnheit, samstags auf dem Markt anfangen würden, über den Glauben zu reden. Wenn man jedes Mal, wenn man dort auf seinem Weg jemand trifft, einmal die Frage stellen würde: »Woran glaubst du?« Die Frage ist schwer. Hätte ich selber gleich eine gute Antwort parat?

Wir sind eines Geschlechts

Vielleicht hilft mir ja Paulus. Paulus hat vor zweitausend Jahren auf dem Marktplatz in Athen nämlich auch so eine Umfrage gemacht wie Pauline. Und als er selber gefragt wird, ob er seinen Glauben erklären kann, hält er auf dem Gerichtshügel an der Akropolis, dem Areopag, eine Rede. Diese Rede ist sehr berühmt. Sie steht in der Apostelgeschichte des Lukas in Kapitel 17 und sie geht so:

–Predigttext  Apostelgeschichte 17, 22–34 –22 

Da stellte sich Paulus vor alle, die auf dem Areopag versammelt waren, und rief: »Athener! Mir ist aufgefallen, dass ihr euren Göttern mit großer Hingabe dient; 23 denn als ich durch eure Stadt ging und mir eure Heiligtümer ansah, da habe ich sogar einen Altar gefunden, auf dem stand: ›Für einen unbekannten Gott.‹ Diesen Gott, den ihr verehrt, ohne ihn zu kennen, möchte ich euch nun bekannt machen. 24 Es ist der Gott, der die Welt und alles, was in ihr ist, geschaffen hat. Dieser Herr des Himmels und der Erde wohnt nicht in Tempeln, die Menschen gebaut haben. 25 Er braucht auch nicht die Hilfe und Unterstützung irgendeines Menschen; schließlich ist er es, der allen das Leben gibt und was zum Leben notwendig ist. 26 Aus dem einen Menschen, den er geschaffen hat, ließ er die ganze Menschheit hervorgehen, damit sie die Erde bevölkert. Er hat auch bestimmt, wie lange jedes Volk bestehen und in welchen Grenzen es leben soll. 27 Das alles hat er getan, weil er wollte, dass die Menschen ihn suchen. Sie sollen mit ihm in Berührung kommen und ihn finden können. Und wirklich, er ist jedem von uns ja so nahe! 28 Durch ihn allein leben und handeln wir, ja, ihm verdanken wir alles, was wir sind. So wie es einige eurer Dichter gesagt haben: ›Wir sind seine Kinder.‹[5] 29 Weil wir nun von Gott abstammen, ist es doch unsinnig zu glauben, dass wir Gott in Statuen aus Gold, Silber oder behauenen Steinen darstellen könnten. Diese sind doch nur Gebilde unserer Kunst und unserer Vorstellungen. 30 Bisher haben die Menschen das nicht erkannt, und Gott hatte Geduld mit ihnen. Aber jetzt befiehlt er allen Menschen auf der ganzen Welt, zu ihm umzukehren. 31 Denn der Tag ist schon festgesetzt, an dem Gott alle Menschen richten wird; ja, er wird ein gerechtes Urteil sprechen, und zwar durch einen Mann, den er selbst dazu bestimmt hat. Er hat ihn darin bestätigt, indem er ihn von den Toten auferweckte.« 32 Als Paulus von der Auferstehung der Toten sprach, begannen einige zu spotten, andere aber meinten: »Darüber wollen wir später noch mehr von dir hören.« 33 Paulus verließ jetzt die Versammlung. 34 Einige Leute schlossen sich ihm an und fanden zum Glauben. Darunter waren Dionysius, ein Mitglied des Stadtrats, eine Frau, die Damaris hieß, und manche andere.

Ähnlich wie Pauline stellt Paulus fest: Die meisten Leute, die man trifft, sind in irgendeiner Form gläubig. Aber sie sind es auf ganz unterschiedliche Weise. Sie haben verschiedene Ansichten, verschiedene Vorstellungen, verschiedene Überzeugungen.

Es gibt damals in Athen mindestens so viele Religionen wie heute. Manche Leute verehren die offiziellen olympischen Götter wie Zeus oder Hera. Andere sind von geheimnisvollen Sekten wie dem Mithras- oder dem
Kybelekult fasziniert. Jede dieser Glaubensrichtungen hat ihre Rituale, Tempel und Götterfiguren aus Stein oder Gold oder Silber. Manche Leute suchen sich von allem ein bisschen heraus und machen sich daraus ihre eigene Religion. Gebildete interessieren sich auch dafür, was Philosophen wie die Stoiker oder die Epikureer über das Göttliche sagen.

Und dann hat Paulus in Athen noch diesen Altar entdeckt, auf dem steht: »Dem unbekannten Gott. Und er denkt: Die Leute, die das gebaut haben, haben begriffen, dass ihrer Religion etwas fehlt. Dass es noch einen Gott geben muss, der ganz anders ist als die Götter, an die sie glauben.

Darüber kann Paulus was sagen. Denn dieser Gott hat in seinem Leben etwas verändert. Er hat ihm eine völlig andere Richtung gegeben. Und Paulus ist klar geworden: Ich kann und ich muss Gott nichts geben, wie die Griechen es tun, wenn sie opfern. Ich bekomme alles von ihm. Dass ich lebe, dass ich herumlaufe, mit Leuten rede, esse, schlafe, einatme, ausatme, denke, lache. Das ist alles von Gott.

Es sind Menschen, die die imposanten Figuren der griechischen Götter geschaffen haben. Mit Gott ist es umgekehrt: Er hat die Menschen gemacht. Sie sind lebendig – wie lebendig muss er erst sein! Und wie lebendig der auferstandene Jesus! An Jesus sehe ich, dass Gott mich nach seinem Bild gemacht hat, denn Jesus hat ein menschliches Gesicht, keines aus Stein. Und so wie wir alle ist Jesus herumgelaufen, hat mit Leuten geredet, gegessen, geschlafen, gelacht und geatmet. Wir sind von Gottes Geschlecht. Das haben die griechischen Philosophen anscheinend geahnt – auch wenn sie von Jesus nichts wussten.

Webmuster

»Woran glaubst du?« Die Dame im braunen Mantel am Marktstand schaut Pauline immer noch an. »Ich glaube«, sagt Pauline langsam, »dass Gott mich gemacht hat. Dass ich lebe, dass ich hier bin, dass wir jetzt miteinander reden, dass wir einatmen, ausatmen, dass wir lebendig sind – das alles hat Gott gemacht.«

Der Käseverkäufer hört andächtig zu. Die alte Dame lächelt. Pauline ist es warm geworden und sie beendet die Umfrage.

Sie steigt auf den Kirchturm. Von oben sind die Stände ganz klein. Vom Blumenstand leuchten winzige Osterglocken herauf. Die kleine Göttin Kybele schaut stumm mit steinernem Blick über den Platz. Die Leute gehen hin und her, von der Kirche zur Apotheke und wieder zurück, von der Stadthalle zum Rathaus, kreuz und quer, ihre Wege ergeben ein kompliziertes Muster, Pauline betrachtet es fasziniert und beglückt. Und sie denkt: »In ihm leben, weben und sind wir.«   Amen.