Predigt zum Nachlesen

Der Predigttext steht heute, am Sonntag Reminiscere, im 5. Kapitel des Jesajabuches,
Vers 1-7. Ich lese während der Predigt immer wieder ein Stück davon vor.
Jesaja beginnt mit folgender Ankündigung:
1 Wohlan, ich will singen stellvertretend für meinen lieben Freund: ein Lied von
meinem Freund und seinem Weinberg.

Mit dieser Ansage weckt Jesaja Erwartungen in seiner Zuhörerschaft.
Wir wissen nicht, bei welcher Gelegenheit und vor welchem Publikum Jesaja dieses Lied
zum Besten gab. Manche Ausleger meinen, Jesajas Lied passe wohl am besten auf das
Fest, das zur Weinlese im Weinberg selbst gefeiert wird. Dann dürfte man sich die Zuhörer festlich gestimmt vorstellen, bester Laune über der eingebrachten Traubenernte. Vielleicht auch schon ein bisschen angeheitert und weinselig.
Ein Lied von meinem Freund und seinem Weinberg. – Aha, ein Liebeslied also. Der
Weinberg war in der poetischen Sprache von damals nämlich oft ein Symbol für die Geliebte oder für die Braut eines Mannes. – Wie schön, was fürs Herz. Solche Propheten
kann man brauchen: Solche, die nicht immer nur Unrecht anprangern, solche, die nicht
ständig Gottes Gericht androhen und überall Abgötterei wittern. Ein Prophet, der mitfeiert, wenn es was zu feiern gibt anstatt die Spaßbremse zu geben. So einer ist richtig.
Also, Jesaja, fang an, lass hören Dein Lied! – Und Jesaja beginnt:

1 Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fetten Anhöhe.
2 Und er grub ihn um und entsteinte ihn und pflanzte darin edle Reben. Er baute
auch einen Turm darin und grub eine Kelter und wartete darauf, dass er gute Trauben brächte; aber er brachte schlechte.
Soweit die erste Strophe.
O oh, Jesaja, das klingt nicht nach einer erfüllten, glücklichen Liebesbeziehung Deines
Freundes zu seiner Braut. – Im Gegenteil:
Jesaja besingt ja, wie sein Freund alles getan hat, was man nur tun kann. Nach allen Regeln der Kunst hat er seinen Weinberg angelegt und gepflegt. Er hat hart gearbeitet, im
Schweiße seines Angesichts, viel Zeit und Mühe in seinen Weinberg investiert:
Zunächst hat er für seinen Weinberg die beste Lage gewählt. Er hat den Boden umgegraben und Steine entfernt. Besonders edle Reben hat er gepflanzt. Einen Turm gebaut,
um seinen Weinberg zu bewachen und zu beschützen. Und eine Kelter hat er gebaut in
freudiger Erwartung der Trauben, die er ernten würde. Später erfahren wir, dass er mit
den abgelesenen Steinen eine Mauer um den Weinberg herum angelegt und eine Dornenhecke als Zaun gepflanzt hat, damit sein Weinberg gegen Eindringlinge von außen
geschützt ist. Kurz: Jesajas Freund hat wirklich alles getan, was man nur tun kann. Er ist
nicht halbherzig vorgegangen, sondern hat sein ganzes Herz an diesen Weinberg gehängt.
Aber anstatt ihm seine Mühe und liebevolle Pflege mit guten Trauben zu danken, bringt
der Weinberg schlechte Trauben hervor.
Vergebliche Liebesmüh, enttäuschte Liebe! – Wer kennt das nicht, liebe Gemeinde! Du
investierst in ein gutes Verhältnis zu den Arbeitskollegen oder zu den Nachbarn, Du investierst in eine gute Beziehung zu Deinen Kindern oder in eine Freundschaft. Du investierst in der Liebe, gibst Dir Mühe, nimmst Dir Zeit, bist aufmerksam. - Und am Ende stehst Du mit leeren Händen da. Wie der letzte Depp. Wirst übergangen, oder sogar hintergangen. Deine Bemühungen bleiben unbeachtet, Deine Liebe wird zurückgewiesen. Nun Jesaja, lass hören, wie geht es weiter mit den beiden? Los Jesaja, nächste Strophe!
- Und Jesaja singt weiter:

3 Nun, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas, richtet zwischen mir und
meinem Weinberg!
4 Was sollte man noch mehr tun an meinem Weinberg, das ich nicht getan habe an
ihm? Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht, während ich darauf wartete,
dass er gute brächte?

Jesaja singt weiter, aber er erzählt nicht weiter. Vielmehr ruft er seine Zuhörer als
Schiedsrichter auf: Richtet, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas, zwischen
meinem Freund und seinem Weinberg! Was hätte er denn noch tun sollen? Hat er es an
irgendwas fehlen lassen? War seine Erwartung, nun auch gute, süße Trauben zu ernten,
denn nicht berechtigt. Hatte er nicht allen Grund zur Hoffnung, geliebt zu werden von der
Frau, die er umwarb?
Jesajas Zuhörer sind plötzlich mittendrin. Sie sollen nicht nur zuhören und konsumieren,
sondern mitfühlen und mitdenken. Sie werden aufgefordert, Stellung zu beziehen.
Viele werden es im Stillen getan haben. Manche haben es vielleicht auch laut dazwischen gerufen: „Jesaja, Dein Freund hat wirklich alles getan. Ihn trifft keine Schuld“. „Jesaja, sag Deinem Freund: Er soll die Schlampe zum Teufel jagen.“ „Jesaja, die Schuld
liegt eindeutig auf der Seite des Weinbergs. Dein Freund hatte ein gute Ernte verdient!“
So mögen sie gerufen oder gedacht haben.
Und Jesaja singt weiter:

5 Wohlan, ich will euch zeigen, was ich mit meinem Weinberg tun will! Sein Zaun
soll weggenommen werden, dass er verwüstet werde, und seine Mauer soll eingerissen werden, dass er zertreten werde.
6 Ich will ihn wüst liegen lassen, dass er nicht beschnitten noch gehackt werde,
sondern Disteln und Dornen darauf wachsen. Ich will den Wolken gebieten, dass
sie nicht darauf regnen.
So klingt es, liebe Gemeinde, wenn enttäuschte Liebe in ihr Gegenteil umschlägt. Wenn
alles Werben vergeblich war. Wenn alles Bemühen und jede Aufmerksamkeit ihr Ziel verfehlen. Wenn jedes gute und liebevolle Wort wie in den Wind geredet ist. Wenn weder Zärtlichkeit noch Fürsorge auf Gegenliebe stoßen.
Liebe wartet immer auf eine Antwort. Liebe sehnt sich immer nach Gegenliebe.
Liebe ohne Antwort verkümmert. Liebe verdorrt, wenn immer nur einer daran arbeitet.
Manche gescheiterte Ehe erzählt diese traurige Geschichte.
Enttäuschte Liebe wird zum brennenden Schmerz und schließlich zum Zorn. Ein Zorn
der nicht selten im Rosenkrieg endet.
Und so will auch Jesajas Freund sich dafür rächen, dass ihm verwehrt wurde, wonach er
sich so sehr gesehnt, wofür er sich so sehr eingesetzt hatte: reiche Ernte – die Liebe der
Frau, die er nach allen Regeln der Kunst umworbenen hatte.
Seine Rache besteht schlicht darin, dass er sich abwendet, seinen Schutz, seine Pflege
und seine Fürsorge – alles nimmt er zurück! Sie ist es nicht wert, sagt er sich.
Im Lied, das Jesaja singt - stellvertretend für seinen Freund – drückt er all das poetisch
aus: im Bild vom Weinberg, der nun sich selbst überlassen bleibt. Was er zu seinem
Schutz eingerichtet hatte - die Mauer und die Dornenhecke als Zaun – e will es einreißen. Soll man den Weinberg doch zertrampeln. Die Rebstöcke wird er nicht mehr pflegen, den Boden nicht mehr lockern, alles wird er von Disteln und Dornen überwuchern
lassen. – Und den Wolken wird verbieten, über dem Weinberg zu regnen!

Bis hierher waren Jesajas Zuhörer bereitwillig mitgegangen. „Recht hat er, Dein
Freund!“, haben sie gedacht. „Sie ist es nicht wert, dass Du Dich weiter um sie bemühst!
„Sie ist Deiner Liebe nicht wert!“ – „So einen Weinberg kann man nur noch verlassen.“ –
„Ja, soll er den Weinberg doch sich selbst überlassen, Dein Freund! – Das ist das Beste,
was er tun kann!“ -

Aber wer ist dieser Freund, dass er nun auch noch den Wolken verbieten will, über dem
Weinberg zu regnen? Für wen hält sich der Freund? – Wie sollen wir das verstehen? Als
eine Art Fluch? Wird er da nicht etwas überheblich, der enttäuschte Freund? Wer ist er,
dass er den Wolken und dem Regen gebieten will?
Vielleicht hat Jesaja die Fragezeichen in den Gesichtern seiner Zuhörer gesehen. Und
war zufrieden damit. Denn nun hatte er seine Zuhörer genau da, wo er sie haben wollte.

Jetzt waren sie reif für die letzte Strophe. – Sie sollten hier nicht Zuhörer bleiben. Und sie
sollten auch nicht länger Schiedsrichter sein zwischen seinem Freund und dessen Weinberg. - Jetzt sollten sie zu hören bekommen, dass sie sich selbst das Urteil gesprochen
hatten. - Jesaja singt die letzte Strophe:

7 Der Weinberg des HERRN Zebaoth ist das Haus Israel und die Männer Judas
sind seine Pflanzung, an der sein Herz hing. Er wartete auf Rechtsspruch, aber
siehe, da war Rechtsbruch. Er wartete auf Gerechtigkeit, aber siehe, da war nur
Geschrei über Schlechtigkeit.

Jetzt erkennen Jesajas Zuhörer: Das Ganze war ein Gleichnis. Der Freund, für den Jesaja das Lied gesungen und der sich so liebevoll um seinen Weinberg bemüht hatte, das
war kein anderer als Gott. Und der widerborstige Weinberg, das waren sie selbst: das
Haus Israel und die Männer von Juda – sie waren der undankbare Weinberg.
Sie waren diejenigen, die Gott und seine Liebe einfach auflaufen ließen. Sie waren es,
die Gott verweigerten, wonach er sich sehnte: dass seine Liebe erwidert würde. Aus
Liebe hatte er Israel erwählt aus allen Völkern, aus Liebe hatte er sie befreit von der
Knechtschaft in Ägypten. Aus Liebe hatte er ihnen gute Regeln für ein Leben in der Freiheit gegeben: die zehn Gebote. Aus Liebe hatte eingewilligt, dass Sie einen König haben
sollten wie andere Völker. Und aus Liebe hatte er den König Salomo einen Tempel errichten lassen in Jerusalem: als äußeres Zeichen dafür, dass er da ist: dass er allezeit da
ist für sein geliebtes Volk. – Aber dieses geliebte Volk fragte nichts nach alledem. Gott
sah Rechtsbruch anstelle von Rechtsspruch bei seinem Volk. Und er sah statt Gerechtigkeit nur das Geschrei über Schlechtigkeit.

Nun könnten wir es uns leicht machen, liebe Gemeinde, und mit Fingern auf die Männer
von Juda und das Haus Israel von damals zeigen. Wir könnten in der Zuschauerrolle
bleiben, wie die Leute damals es ja auch am liebsten getan hätten. – Aber wir sind nicht
in der Zuschauerrolle, liebe Gemeinde.
Denn, was Jesaja damals noch nicht wissen konnte: Gott hat diesem Liebeslied noch
viele Strophen hinzugefügt.
Er hat sein Volk Israel im Zorn immer nur für einen Augenblick verlassen. Nie hat er sich
endgültig abgekehrt von seinem geliebten Weinberg. – Im Gegenteil: Er hat ihn sogar
noch erweitert, seinen geliebten Weinberg. Durch Jesus gehören auch wir heute dazu.

Wir befinden uns in der Passionszeit. Wir erinnern uns an die für uns entscheidende
Strophe in Gottes Liebeslied: Durch Jesus Christus, durch sein Leiden und Sterben und
durch seine Auferstehung, sind wir als Kirche Jesu Christi ein Teil des Weinbergs. Wer
zu Jesus gehört, gehört dazu zu Gottes geliebtem Volk.

Deshalb, liebe Gemeinde, deshalb sind wir beim Weinberglied vom Propheten Jesaja
nicht einfach Zuhörer und Konsumenten, die mit Fingern auf andere zeigen können. Sondern die Anfrage von Jesaja zielt auch auf uns: Wie gehen wir mit Gott und seiner Liebe
um? Erwidern wir sie? Oder lassen wir den lieben Gott einen guten Mann sein?

Der große Gott wünscht sich und er sehnt sich danach, von uns kleinen Menschen geliebt zu werden. Das ist für mich immer wieder erstaunlich, liebe Gemeinde! Der große
Gott, Schöpfer des Himmels und der Erde, Schöpfer auch meines Lebens, sehnt sich
nach meiner Liebe. Dafür hat er alles gegeben. Am Ende wurde er in Jesus gar selbst
ein Mensch, um uns nahe zu sein. Und um uns zu zeigen, wie stark seine Liebe zu uns
ist: stärker als der Tod!

Darum, liebe Gemeinde, lasst es uns mit dem Apostel Johannes halten, der uns auffordert: „Lasst uns ihn lieben! Denn er hat uns zuerst geliebt.“ (1. Joh 4,19) – Lasst uns ihn
lieben! Denn Gott hat seine Liebe zu uns darin offenbar gemacht, dass Christus für uns
gestorben ist, als wir noch Sünder waren. (Röm 5,8)
Lasst uns ihn lieben und zu ihm kommen auch mit unserem nächsten Lied. Im Herzen
können wir es mitsingen und mitbeten: „Ich will dich lieben, meine Stärke …“ Amen.